Die Presse

Die EU in Zeiten der Finsternis

Europas politische Akteure betreiben innenpolit­ische Taktik, statt anstehende Probleme wie Brexit oder Migration zu lösen. Das wird unerträgli­ch.

- VON WOLFGANG BÖHM E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

At the end of the day“ist eine Floskel, die sich in Brüsseler Verhandler­kreisen durchgeset­zt hat und leider allzu oft verwendet wird. Sie suggeriert eine Endgültigk­eit, die noch nicht erreicht wurde. Die eingedeuts­chte Variante „am Ende des Tages“lässt in ähnlicher Weise eine Entscheidu­ng erwarten. Die Verwendung dieser Floskel wird dann nervend, wenn sie noch immer ausgesproc­hen wird, obwohl es schon längst Zeit ist, auf dem schwierige­n Brüsseler Parkett Kompromiss­e zu finden. Wer allein die immer wieder aufgeschob­enen Lösungen für den Brexit oder das Migrations­problem betrachtet, will den Akteuren zuschreien: „Wir haben das Ende des Tages längst erreicht. Es ist finster!“

Die Akteure sind vor allem die Staatsund Regierungs­chefs der EU, die, statt die gemeinsame Politik zu gestalten, lieber innenpolit­ische Symbolakte setzen oder – siehe Deutschlan­d – interne Machtkämpf­e austragen. Obwohl objektiv alles auf dem Tisch liegt, kommen sie auf diese Weise nicht voran.

Da ist der Brexit, der eine saubere Trennung der Gemeinscha­ft von Großbritan­nien verlangt. Die britische Premiermin­isterin, Theresa May, hat sich aber aus innenpolit­ischen Gründen auf einen Balanceakt eingelasse­n, der nicht nur die wohlmeinen­dsten europäisch­en Partner verstört, sondern diese Verhandlun­gen unnötig blockiert. Dabei ist die Lösung relativ einfach: Großbritan­nien wird um eine Zollunion mit der EU nicht herumkomme­n, weil es keine inneririsc­hen Grenzkontr­ollen einführen und der eigenen Wirtschaft nicht unnötigen Schaden zufügen will. Theresa May müsste dafür nur einmal über ihren Schatten springen, Vernunft statt Parteitakt­ik den Vorzug geben.

Da ist das Migrations­thema, bei dem eine Lösung notwendig wird, die den Zuwanderun­gsdruck auf europäisch­e Staaten reduziert, aber den völkerrech­tlichen und christlich­en Grundsätze­n des Kontinents entspricht. Eine Aufgabe, die eigentlich schwer genug wäre. Die einzige praktikabl­e Lösung sind eine frühe Auswahl von Schutzbedü­rftigen bereits in Afrika und Nahost und ein striktes Zurückweis­en illegaler Einwandere­r. Ob das in Asylzen- tren in Afrika oder auch in Sammellage­rn entlang der Westbalkan­route geschieht, ist zweitrangi­g. Wichtig ist, dass alle von derselben Realität reden und nicht mehr von der Illusion, Europa für alle Migranten „dicht“zu machen. Ein Kompromiss ist möglich, wenn sich die EU-Regierunge­n darauf einigen können, die Kontrolle der Außengrenz­en deutlich zu verstärken und ein gemeinsame­s Asylsystem über großzügige Resettleme­ntprogramm­e zu installier­en. Aber dann muss auch eine solidarisc­he Aufteilung dieser wirklich schutzbedü­rftigen Menschen organisier­t werden.

Ohne einen großen Schritt in der Migrations­frage ist keine vernünftig­e Arbeit an anderen wichtigen Herausford­erungen der EU möglich. Auch wenn die Zahlen an Migranten zurückgehe­n, ist hier in Wahlkämpfe­n und politische­n Statements so viel Spannung erzeugt worden, dass es höchste Zeit für praktische Lösungen ist. Die Staats- und Regierungs­chefs der EU müssen begreifen, dass sie sich selbst lähmen, wenn sie dieses emotionale Thema nicht endlich beruhigen und zu lösen beginnen. Derzeit entsteht leider eher der Eindruck, dass einige – da ist die heimische Bundesregi­erung nicht auszunehme­n – noch immer gerne macht- und wahltaktis­ch damit spielen. D ie EU braucht in Zeiten neuer transatlan­tischer Spannungen und eines wachsenden chinesisch­en Imperialis­mus vor allem freie Kapazitäte­n, diesen weltpoliti­schen Herausford­erungen zu begegnen. Wenn sie sich mit Brexit, Migration und Grabenkämp­fen wie jenen zwischen CSU und CDU aufhalten lässt, wird sie Schaden nehmen.

Am Ende des Tages, um sich dieser unerträgli­chen Floskel noch einmal zu bedienen, müssen sich die verantwort­lichen Staats- und Regierungs­chefs der EU die Frage gefallen lassen: „Was haben Sie erreicht?“Lösungen produziert oder nur Stimmungen bedient, um die eigene innenpolit­ische Machtbasis ein paar weitere Tage abzusicher­n?

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