„Warum kaputtmachen, wenn es funktioniert?“
Interview. Frankreichs Europaministerin, Nathalie Loiseau, spricht sich dezidiert gegen die Senkung der Förderungen für Europas Landwirte aus und hält die österreichische Forderung nach Einsparungen im EU-Budget für unausgegoren.
Die Presse: Die Kommission schlägt vor, dass der EU-Haushalt nach dem Jahr 2020 1,14 Prozent der Wirtschaftsleistung Europas betragen soll. Ist das genug, um die Ideen Frankreichs zu verwirklichen? Nathalie Loiseau: Für uns mangelt es hinsichtlich der politischen Prioritäten der EU ein wenig an Ehrgeiz. Unsere Bürger wollen, dass Europa aktiver wird im Bereich der Verteidigung und der Migration. Daneben gibt es die sogenannten Politiken. Sie sind wichtig, weil sie Europa viel gebracht haben. Die Gemeinsame Agrarpolitik hat uns Ernährungssouveränität verschafft. Sie erlaubt es, unsere Landwirtschaft beim Export ebenso zu unterstützen wie in unseren Bemühungen um die ökologische Wende. Wir sind für ein größeres Budget bereit – unter der Bedingung, dass es modernisiert wird. Was heißt das konkret? Allem voran muss Schluss sein mit all jenen Praktiken, die aus dem britischen Beitrag folgen – all diese Rabatte, die manche Staaten auf ihre Beiträge erhalten. Sie haben heute keine Daseinsberechtigung. Und wir müssen über neue Geldquellen nachdenken. Wir denken, dass man über die Vorschläge der Kommission hinaus weitergehen muss. Wir müssen zum Beispiel über eine Steuer für die Digitalkonzerne nachdenken. Deren Einnahmen sollten in das Budget fließen. Das wären im Schnitt fünf Milliarden Euro pro Jahr. Wir teilen nicht die Sichtweise jener, die sagen: Die Union wird kleiner, also braucht es auch ein kleineres Budget.
Da sind Sie im Widerspruch zu den Niederlanden, Österreich, den nordischen und baltischen Staaten – und auch zu einflussreichen Kräften in der deutschen Regierungskoalition. Das ist nicht die Position Deutschlands. Die Kanzlerin hat gesagt, und das steht auch im Koalitionsvertrag, dass die Migration neue Ausgaben erfordert und sie wie wir bereit ist, mehr in die Forschung und Entwicklung im Bereich der Sicherheit zu investieren. Was die anderen betrifft: Da müssen wir mit allen diskutieren. Die Positionen sind noch weit auseinander. Wenn ich die österreichische Position richtig verstehe, ist sie einerseits der Gemeinsamen Agrarpolitik verbunden, andererseits aber dafür, dass man das Budget nicht erhöhen soll. Ich verstehe nicht ganz, wie man beides zugleich machen kann.
Welche EU-Politikfelder benötigen nach Ansicht Frankreichs mehr Geldmittel? Wir sind gegen die Senkung der Mittel für die Agrarpolitik. Der Vorschlag der Kommission macht, inflationsbereinigt, minus 15 Prozent aus. Das bedeutet eine Gefährdung vieler agrarischer Betriebe gerade in dem Moment, wo sie Unterstützung während ihres Wandels benötigen. Es wäre ein historischer Fehler. Warum soll man ein Instrument schädigen, das funktioniert?
Der EU-Rechnungshof hält fest, dass rund 80 Prozent der Zahlungen an Großbetriebe gehen, nicht an die kleinen Landwirte. Wir sind absolut für die Modernisierung der Agrarpolitik. Aber man kann eine Politik nicht modernisieren, indem man sie opfert. Man kann den kleinen Betrieben und den jungen Landwirten nicht helfen, indem man das Budget so stark kürzt.
Geht es Ihrer Meinung nach den Regierungen, die ein kleineres EU-Budget fordern, wirklich nur ums Geld – oder eher darum, wie viel politische Handlungsfähigkeit man der EU gewähren will? Es gibt Politiken wie beispielsweise den Kampf gegen den Terrorismus, die dem Wesen nach in nationaler Zuständigkeit liegen, bei denen man aber zusehends einsieht, dass sie auch auf die europäische Ebene gehören. Das bedeutet ja nicht, dass man der Kommission alle Zuständigkeiten überträgt. Genauso ist das bei der Verteidigung: nationale Kompetenz, aber wir wissen, dass es eine europäische Dimension braucht. Es geht also nicht um eine radikale Änderung. Wir stehen Herausforderungen gegenüber, die wir mit den gegenwärtigen budgetären Mitteln nicht meistern können.
Präsident Macron hat die Idee von EUweiten Bürgerkonsultationen lanciert. Ist das dem Schock des gescheiterten EU-Verfassungsreferendums in Frankreich im Jahr 2005 geschuldet, als die politische Klasse vom Nein überrascht schien? Es gibt eine Kluft zwischen dem, wie die Bürger denken, und dem, wie in Brüssel die Entscheidungen gefällt werden. Das zeigte sich 2005 beim Referendum, beim Brexit, beim Ergebnis der jüngsten Wahlen in Italien. Auf die Frage „Welche Zukunft wollen Sie für Europa?“kann man nicht per Volksabstimmung, mit Ja oder Nein, antworten. Hier gibt es eine Vielzahl an Antworten, und diese wollen wir mittels der Bürgerkonsultationen besser zu verstehen versuchen.
All das sind nicht nur theoretische Überlegungen. Es ist möglich, dass die europaskeptischen Kräfte bei der Europawahl 2019 die meisten Stimmen erhalten. Glauben Sie mir: Ich tue alles, damit das nicht eintrifft.
Hängt dieses Problem auch mit den offensichtlichen Wertunterschieden zwischen Ost- und Westeuropa zusammen, die man am Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn festmachen kann? Man kann nicht Mitglied der EU sein, ohne ihre Werte zu teilen. Die Union ist nicht bloß ein Binnenmarkt oder ein Scheckbuch, sie ist eine Werteunion. Wir können in der Union nicht mit Ländern im Bereich der Justiz oder bei der Ausschüttung der Fonds zusammenarbeiten, wo die Unabhängigkeit der Justiz nicht respektiert wird.
Das Artikel-7-Verfahren gegen Polen ist aber eine Sackgasse. Ungarn wird für Polen stets das Veto gegen einen Entzug der Stimmrechte im Rat einlegen. Das ist die gegenwärtige Position der ungarischen Regierung. Aber wir arbeiten derzeit an einem Vorschlag für das EU-Budget, wonach die Auszahlung von Mitteln an die Rechtsstaatlichkeit geknüpft ist. Das gilt für alle Staaten – und es ist das Minimum.