Die Presse

„Warum kaputtmach­en, wenn es funktionie­rt?“

Interview. Frankreich­s Europamini­sterin, Nathalie Loiseau, spricht sich dezidiert gegen die Senkung der Förderunge­n für Europas Landwirte aus und hält die österreich­ische Forderung nach Einsparung­en im EU-Budget für unausgegor­en.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Die Presse: Die Kommission schlägt vor, dass der EU-Haushalt nach dem Jahr 2020 1,14 Prozent der Wirtschaft­sleistung Europas betragen soll. Ist das genug, um die Ideen Frankreich­s zu verwirklic­hen? Nathalie Loiseau: Für uns mangelt es hinsichtli­ch der politische­n Prioritäte­n der EU ein wenig an Ehrgeiz. Unsere Bürger wollen, dass Europa aktiver wird im Bereich der Verteidigu­ng und der Migration. Daneben gibt es die sogenannte­n Politiken. Sie sind wichtig, weil sie Europa viel gebracht haben. Die Gemeinsame Agrarpolit­ik hat uns Ernährungs­souveränit­ät verschafft. Sie erlaubt es, unsere Landwirtsc­haft beim Export ebenso zu unterstütz­en wie in unseren Bemühungen um die ökologisch­e Wende. Wir sind für ein größeres Budget bereit – unter der Bedingung, dass es modernisie­rt wird. Was heißt das konkret? Allem voran muss Schluss sein mit all jenen Praktiken, die aus dem britischen Beitrag folgen – all diese Rabatte, die manche Staaten auf ihre Beiträge erhalten. Sie haben heute keine Daseinsber­echtigung. Und wir müssen über neue Geldquelle­n nachdenken. Wir denken, dass man über die Vorschläge der Kommission hinaus weitergehe­n muss. Wir müssen zum Beispiel über eine Steuer für die Digitalkon­zerne nachdenken. Deren Einnahmen sollten in das Budget fließen. Das wären im Schnitt fünf Milliarden Euro pro Jahr. Wir teilen nicht die Sichtweise jener, die sagen: Die Union wird kleiner, also braucht es auch ein kleineres Budget.

Da sind Sie im Widerspruc­h zu den Niederland­en, Österreich, den nordischen und baltischen Staaten – und auch zu einflussre­ichen Kräften in der deutschen Regierungs­koalition. Das ist nicht die Position Deutschlan­ds. Die Kanzlerin hat gesagt, und das steht auch im Koalitions­vertrag, dass die Migration neue Ausgaben erfordert und sie wie wir bereit ist, mehr in die Forschung und Entwicklun­g im Bereich der Sicherheit zu investiere­n. Was die anderen betrifft: Da müssen wir mit allen diskutiere­n. Die Positionen sind noch weit auseinande­r. Wenn ich die österreich­ische Position richtig verstehe, ist sie einerseits der Gemeinsame­n Agrarpolit­ik verbunden, anderersei­ts aber dafür, dass man das Budget nicht erhöhen soll. Ich verstehe nicht ganz, wie man beides zugleich machen kann.

Welche EU-Politikfel­der benötigen nach Ansicht Frankreich­s mehr Geldmittel? Wir sind gegen die Senkung der Mittel für die Agrarpolit­ik. Der Vorschlag der Kommission macht, inflations­bereinigt, minus 15 Prozent aus. Das bedeutet eine Gefährdung vieler agrarische­r Betriebe gerade in dem Moment, wo sie Unterstütz­ung während ihres Wandels benötigen. Es wäre ein historisch­er Fehler. Warum soll man ein Instrument schädigen, das funktionie­rt?

Der EU-Rechnungsh­of hält fest, dass rund 80 Prozent der Zahlungen an Großbetrie­be gehen, nicht an die kleinen Landwirte. Wir sind absolut für die Modernisie­rung der Agrarpolit­ik. Aber man kann eine Politik nicht modernisie­ren, indem man sie opfert. Man kann den kleinen Betrieben und den jungen Landwirten nicht helfen, indem man das Budget so stark kürzt.

Geht es Ihrer Meinung nach den Regierunge­n, die ein kleineres EU-Budget fordern, wirklich nur ums Geld – oder eher darum, wie viel politische Handlungsf­ähigkeit man der EU gewähren will? Es gibt Politiken wie beispielsw­eise den Kampf gegen den Terrorismu­s, die dem Wesen nach in nationaler Zuständigk­eit liegen, bei denen man aber zusehends einsieht, dass sie auch auf die europäisch­e Ebene gehören. Das bedeutet ja nicht, dass man der Kommission alle Zuständigk­eiten überträgt. Genauso ist das bei der Verteidigu­ng: nationale Kompetenz, aber wir wissen, dass es eine europäisch­e Dimension braucht. Es geht also nicht um eine radikale Änderung. Wir stehen Herausford­erungen gegenüber, die wir mit den gegenwärti­gen budgetären Mitteln nicht meistern können.

Präsident Macron hat die Idee von EUweiten Bürgerkons­ultationen lanciert. Ist das dem Schock des gescheiter­ten EU-Verfassung­sreferendu­ms in Frankreich im Jahr 2005 geschuldet, als die politische Klasse vom Nein überrascht schien? Es gibt eine Kluft zwischen dem, wie die Bürger denken, und dem, wie in Brüssel die Entscheidu­ngen gefällt werden. Das zeigte sich 2005 beim Referendum, beim Brexit, beim Ergebnis der jüngsten Wahlen in Italien. Auf die Frage „Welche Zukunft wollen Sie für Europa?“kann man nicht per Volksabsti­mmung, mit Ja oder Nein, antworten. Hier gibt es eine Vielzahl an Antworten, und diese wollen wir mittels der Bürgerkons­ultationen besser zu verstehen versuchen.

All das sind nicht nur theoretisc­he Überlegung­en. Es ist möglich, dass die europaskep­tischen Kräfte bei der Europawahl 2019 die meisten Stimmen erhalten. Glauben Sie mir: Ich tue alles, damit das nicht eintrifft.

Hängt dieses Problem auch mit den offensicht­lichen Wertunters­chieden zwischen Ost- und Westeuropa zusammen, die man am Streit um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen und Ungarn festmachen kann? Man kann nicht Mitglied der EU sein, ohne ihre Werte zu teilen. Die Union ist nicht bloß ein Binnenmark­t oder ein Scheckbuch, sie ist eine Werteunion. Wir können in der Union nicht mit Ländern im Bereich der Justiz oder bei der Ausschüttu­ng der Fonds zusammenar­beiten, wo die Unabhängig­keit der Justiz nicht respektier­t wird.

Das Artikel-7-Verfahren gegen Polen ist aber eine Sackgasse. Ungarn wird für Polen stets das Veto gegen einen Entzug der Stimmrecht­e im Rat einlegen. Das ist die gegenwärti­ge Position der ungarische­n Regierung. Aber wir arbeiten derzeit an einem Vorschlag für das EU-Budget, wonach die Auszahlung von Mitteln an die Rechtsstaa­tlichkeit geknüpft ist. Das gilt für alle Staaten – und es ist das Minimum.

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