Lächeln in der Metro, oder: Die WM verwandelt Moskau
Nach dem Sieg über Ägypten hat die WM-Begeisterung auch die Russen erfasst – bis zu ihrem nächsten Spiel regiert gute Laune.
Bis tief in die Nacht hinein schallten die „Rossija“-Chöre durch die Höfe der Wohnblöcke, und hupende Autos durchschnitten das gleichmäßige Brummen des Verkehrs auf den Prospekten. Russland erlebte nach dem Triumph über Ägypten Stunden voller Leichtsinn. Auch am Morgen danach war eines gewiss, da konnte der Kopf noch so schmerzen: Russland nimmt weiter an dieser WM teil, so der Tenor: „Die Sbornaja und wir, die Fans, mit ihr!“
„Aufgabe erfüllt“, hatte Teamchef Stanislaw Tschertschessow nach dem Spiel erklärt. Er ist kein Mann der langen Reden. In Sportportalen und Zeitungen griff man dagegen zu den ganz großen Worten: Die Sbornaja habe mit ihrem Zweifachtriumph das Vertrauen der Russen zurückerobert, hieß es, man sprach von einem „historischen Moment“(seit 32 Jahren erstmals im Weltcup-Achtelfinale) oder schrie sich einfach die Freude aus dem Leibe wie ein Kommentator: „AAAAAAAAAaaaaaaa!!!“Die Büßer mit schlechtem Gewissen bitten Tschertschessow um Verzeihung für die vielen Schmähungen vorab: „Vergib uns, Stas!“
Man kann die WM in Russland als sündteures Prestigeprojekt Wladimir Putins kritisieren, der, so die Ironie der Geschichte, das entscheidende Match wegen seines Besuchs in Belarus nicht einmal sah. Das ist das eine. Und dann gibt es noch die Ebene abseits vom Pomp der nagelneuen Stadien und den einseitigen Jubelberichten des Staatsfernsehens, in denen alles immer nur großartig ist und internationale Fans aus unerfindlichen Gründen stets „Rossija“in die Kamera schreien. Es ist die, einfach ausgedrückt, menschliche Ebene. Diese WM wirkt wie ein Stimmungsaufheller in einem Land, das notorisch schlecht gelaunt ist. Wie eine große, dezentrale Übung zur allgemeinen Entspannung und Lockerung. Moskau, die Hauptstadt der Griesgrämigen, ist seit einigen Tagen nicht mehr wiederzuerkennen. Wir sprechen nicht vom Alkoholkonsum. Wir sprechen vom Lächeln. Von Hilfsbereitschaft. Von friedlichem Amüsement.
In Moskau gilt das ungeschriebene Gesetz, dass im öffentlichen Raum keine Emotionen gezeigt werden. Die Metrofahrt wird schweigend und mit gleichgültiger Gesichtsmaske überstanden. Mitreisenden schlägt man die Schwingtür ins Gesicht. An Hilfesuchenden eilt man grundsätzlich vorüber, als hätte man sie nicht gesehen.
Und jetzt das! Tausende gut gelaunte WM-Fans haben die Stadt eingenommen: Isländer, die in der U-Bahn polternde Schlachtgesänge grölen, Mexikaner mit und ohne Sombrero, mit Flaggen behängte Marokkaner. Da ist die russische Ordnung schnell ins Wanken geraten. Jeden Tag kann man beobachten, wie Moskauer bedürftigen Touristen mit Händen und Füßen helfen; wie U-Bahn-Kassiererinnen und sogar Polizisten ihre Lippen zu einem Lächeln formen; wie Russen mit Ausländern aus aller Welt tanzen, sich fotografieren, abklatschen und den Klang englischer Floskeln austesten. Ungleiche Paare der Völkerfreundschaft haben sich gebildet, vor deren Folgen für den russischen Genpool eine Abgeordnete noch vor ein paar Tagen warnte. Wie lange das alles anhält? Welche Folgen es hat? Man weiß es nicht. Aber auch nach der WM wird man wissen, dass das möglich war. Sogar in Moskau.