Selbstzerfleischung, made in Germany
Nach dem 0:1 gegen Mexiko sportlich geplagt, mit dem Quartier im Plattenbau zu Watutinki sehr unglücklich, ohne Mannschaftshierarchie und vor dem Schweden-Spiel sorgenvoll: Deutschlands Auftritt bei der Fußball-WM irritiert.
Sotschi/Wien. Der Flug von Moskau nach Sotschi dauert nur knapp zweieinhalb Stunden. Es dürfte trotzdem genug Zeit gewesen sein für Deutschlands Spieler, um tief durchzuatmen und die ersten Negativerlebnisse in Russland abzuschütteln. An der Schwarzmeerküste wird mancher etwas die Seele baumeln lassen, nebst Trainingseinheiten und Analysen. Denn das 0:1 gegen Mexiko deckte schonungslos spielerische Schwächen, team-interne Diskrepanzen und bekannte Problemzonen auf.
Mit der Wahl des WM-Quartiers hat sich Joachim Löw vertan. Seine Luxus-gewöhnten Profis, zudem Titelverteidiger, können mit dem Flair einer Plattenbau-Sportschule bei Moskau nichts anfangen. Zudem: Jeder weiß, wo und wie andere Teams residieren. Neidvoll ist geradezu der Blick zu den Schweden, dem nächsten Gegner. Sie wohnen im Kempinski Grand Hotel, 5-Sterne-Palast. Brasilien hat überhaupt für die komplette WM in Sotschi Quartier bezogen. Da, wo das DFB-Team entspannt während des Confed-Cups ruhte und von dort aus alle Reisestrapazen problemlos meisterte.
Blöcke, Böcke – und Visionen
Die Aufarbeitung der Auftaktniederlage zeigte, dass sich das DFBTeam, laut „Sportbild“, in zwei Lager geteilt hat. Einen Bayern-Block, dem Toni Kroos als Meinungsmacher vorsteht. Und die „BlingBling-Clique“rund um Mesut Özil, die andere Interessen verfolgt. Ob es tatsächlich gleich 18 Baustellen sind, wie „Bild“plakativ ausrechnete, sei allerdings dahingestellt.
Schwedens 1:0-Sieg gegen Südkorea hat die Situation in Gruppe F zugespitzt. Für Deutschland wirkt es wie ein Alptraum: eine Niederlage am Samstag (20 Uhr) könnte das Aus bedeuten.
I Sehr heikle Ausgangslage: Alles würde extrem, sollte Mexiko am Samstag auch sein zweites Spiel (17 Uhr, gegen Südkorea) gewinnen. Dann würde eine DFB-Niederlage gegen Schweden das WMEnde am 2. WM-Spieltag bedeuten. Das gab es bei 18 WM-Teilnahmen noch nie. Zuvor erlebten das allerdings Titelverteidiger wie Frankreich (2002), Italien (2010) und Spanien (2014). Löw wäre dann gescheitert, seinen Job los. Jupp Derwall (1984), Erich Ribbeck (2000) und Rudi Völler (2004) überstanden jedenfalls solch Enttäuschungen (jeweils EM) nicht. I Wie stark ist Schweden? Italiens Beispiel sollte eigentlich Warnung genug sein, die Skandinavier eliminierten die Squadra Azzurra (1:0, 0:0) in den WM-Playoffs. „Es ist jetzt etwas Spezielles. Es wird ein großes Spiel“, stichelt Leipzig-Legionär Emil Forsberg bereits. Auch Trainer Janne Andersson sagt: „Deutschland ist der Gegner, den wir schlagen wollen.“
I Wie reagiert Löw? Sechs Turniere schon betreut er das DFB-Team. Die Erfahrung spricht für den Badener, obgleich Abnützungserscheinungen merkbar sein sollen, meint die „FAZ“. Die Mannschaft, die 2010 als „Erfolgsgeneration“begonnen hatte, beginne an Glanz zu verlieren, behauptet die „Süddeutsche“. Sie fragte sich, ob man sich „nicht sorgen müsste?“.
Löw, 58, führte seine Teams immer mindestens ins Halbfinale. Er kann Krisenmanager spielen. 2014 stellte er nach dem 2:1 gegen Algerien im Achtelfinale um: Mertesacker flog raus, Klose kam für Götze – jetzt ist Reus seine Option. Gündogan˘ könnte Khedira ersetzen. Abwehrspieler Hector kehrt nach grippalem Infekt zurück.
I Deutschlands neuer Fußball? Die Balance zwischen Defensive und Offensive stimmte gegen Mexiko keinesfalls. Boateng beklagte dabei die inexistente Kommunikation. Hummels fühlte sich in der Abwehr zu oft „allein gelassen“. Wie reagieren Özil, Kroos und Müller darauf? Ist Neuer der richtige Mann als DFB-Kapitän?
Eine „Krisensitzung“soll frischen Wind gebracht haben. Dazu sind vier Tage am Schwarzen Meer beste Abwechslung zur Tristesse in Watutinki. Strandpromenade, wärmere Temperaturen, Meeresluft, Freizeitparks und Palmen – keine grauen Plattenbauten und lästiges Stadtgeheul. Ein richtiger Tapetenwechsel – womöglich genau zum richtigen Zeitpunkt.
I Und die WM? Alles wäre prompt wieder intakt mit einem Sieg in Sotschi – das Achtelfinale kann mit einem weiteren Erfolg gegen Südkorea noch erreicht werden. Dort könnte es dann zum Duell mit Brasilien kommen. Die Revanche für das 1:7 wäre auch das Spiel, das die Fußballwelt sehen will – falls Deutschlands hausgemachte Selbstzerfleischung endet. [ AFP ]