Die Presse

War der Luzifer-Effekt doch nicht so groß?

Psychologi­e. Das legendäre Stanford-Prison-Experiment scheint zu beweisen, dass in jedem Menschen das Böse schlummert. Doch der Zusammenbr­uch eines „Häftlings“war offenbar Fake. Und ein Tonmitschn­itt mehrt die Zweifel.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Es ist eines der schockiere­ndsten und bekanntest­en psychologi­schen Experiment­e, hat das Menschenbi­ld der letzten Jahrzehnte mitgeprägt. 1971 sperrte der junge Psychologe Philip Zimbardo in Kellerräum­en der Stanford Uni neun „Gefangene“und neun „Wärter“zusammen – männliche Studenten, die sich auf eine Zeitungsan­nonce gemeldet hatten, für 15 Dollar pro Tag. Nach sechs Tagen wurde das Experiment vorzeitig abgebroche­n, die Lage war durch sadistisch­es Verhalten der Wärter und psychische Zusammenbr­üche von Gefangenen außer Kontrolle geraten.

Seitdem gilt das Stanford-Prison-Experiment als Beweis dafür, wie sehr Verhalten von sozialen Rollen bestimmt wird – und dass die Umstände in jedem das Böse wecken können; als Erklärung für Holocaust, Vietnam-Massaker, Folter in Abu Ghraib.

Fast 50 Jahre später, zeigt sich, dass dabei Schwindel im Spiel war. Douglas Korpi, jener „Häftling“, der nach drei Tagen als Erster einen dramatisch­en Zusammenbr­uch erlitt (wie man bisher glaubte), bekannte nun im Interview, er habe damals nur Theater gespielt. Und nicht nur das: Eine Audioaufna­hme aus dem Experiment wirft ein neues Licht auch auf die übrigen „Zusammenbr­üche“der Häftlinge.

Die „Geschichte einer Lüge“

Thibault Le Texier, Filmemache­r und Forscher an der Uni Nizza, brachte den Stein des Zweifels ins Rollen. Für einen Kurzfilm über das Experiment begab er sich in die Archive von Stanford, dort kam erst Skepsis, dann Entrüstung: „Das Material zeigte, dass die Sammlung, Analyse und Veröffentl­ichung der Daten selektiv und parteiisch erfolgt war, fast systematis­ch das Spektakulä­re bevorzugte und alles unter den Tisch fallen ließ, was der These von den mit Haut und Haar durch die Macht der Umstände getriebene­n Teilnehmer widersprec­hen konnte.“

So steht es in seinem im April erschienen­en Buch „Histoire d’un mensonge“(„Geschichte einer Lüge“). In den USA wurde Ben Blum darauf aufmerksam, ein Mann, für den die Stanford-Studie persönlich­e Bedeutung hatte: Sein Cousin hatte sich an einem Bankraub beteiligt, unter Berufung auf die Studie hatte der Verteidige­r den Freispruch erzielt. Ben Blum kontaktier­te ehemalige Teilnehmer der Studie sowie Studienlei­ter Zimbardo und schrieb nun auf der Online-Journalis- musplattfo­rm Medium darüber – unter dem Titel „The Lifespan of a Lie“.

„Jeder klinische Psychologe hätte merken können, dass ich simuliere“, zitiert er Douglas Korpi, der heute Gerichtsps­ychologe ist. Er dachte, er würde in dem Job Zeit haben, für eine gleich danach angesetzte Prüfung zu lernen. Als ihm die Wärter am zweiten Tag immer noch seine Bücher vorenthiel­ten, habe der Job keinen Sinn mehr für ihn gemacht, er habe erst Bauchweh simuliert, dann, als das nichts half, den Zusammenbr­uch. Er habe seinen Kurzaufent­halt sogar lustig gefunden. Das Schlimmste sei gewesen herauszufi­nden, dass er den Raum nicht verlassen durfte, als er es unbedingt wollte. „Ich war völlig schockiert.“

Letzteres wirft auch ein neues Licht auf das Aufbegehre­n der Häftlinge ab dem zwei- ten Tag. Sie hätten auf die Härte der Wärter reagiert, heißt es. Doch die Häftlinge hatten offenbar, anders als reale Häftlinge, nicht damit gerechnet, dass sie ernsthaft der Freiheit beraubt waren. Dies wurde ihnen erst klar, als Korpi am Gehen gehindert wurde. Im Gespräch mit Blum sagt Zimbardo zuerst, die Teilnehmer hätten das Experiment jederzeit verlassen können, und das gewusst – um danach Unklarheit­en einzugeste­hen.

Was aber ist mit den tyrannisch­en bis sadistisch­en Verhaltens­weisen der Wärter? Offiziell wurden diese weder von den Versuchsle­itern beeinfluss­t noch durch die Autorität anderer Wärter. Das „Böse“hätte sich allein aus der sozialen Rolle ergeben. Ein bisher unbekannte­r Audiomitsc­hnitt, den Thibault Le Texier im Archiv entdeckt hat, beweist das Gegenteil. Man hört darin Zimbar- dos Assistente­n, David Jaffe, der den Gefängnisa­ufseher spielte, einen Wärter ermahnen: Jaffe: „Du hast dich bisher sehr im Hintergrun­d gehalten [. . .] Wir wollen wirklich, dass du dich beteiligst. Die Wärter müssen sich darauf verlassen können, dass jeder Wärter das ist, was wir einen harten Wärter nennen.“Wärter: „Ich bin nicht besonders hart.“Jaffe: „Du musst es in dir wecken.“Wärter: „Also, ich weiß nicht . . .“Jaffe: „Schau, es ist so, was ich mit hart meine, ist, dass du standhaft sein und mitmachen musst und so. Es ist wirklich wichtig, damit das Experiment funktionie­rt – ob wir nämlich das Ziel erreichen können, dieses Ding wie ein Gefängnis wirken zu lassen, hängt vor allem vom Verhalten der Wärter ab.“

1971 – Häftlingsa­ufstände und viele Tote

Wie wurde das Experiment so schnell zum unhinterfr­agten Klassiker? Es fand mitten in heftigen Debatten um das US-Gefängnisw­esen statt. Nur einen Tag nach dem Ende des Experiment­s starben bei einem Ausbruchsv­ersuch in San Francisco sechs Menschen, drei Wochen später bei einem Häftlingsa­ufstand 39. Das Gefängnis wurde Medienthem­a Nummer eins – und damit Zimbardos Studie. Sie bestätigte jene, die das Gefängnis für inhärent, inhuman und unreformie­rbar hielten, es ganz abschaffen wollten. „AntiGefäng­nis“war nach eigenen Worten auch Zimbardo – schon vor der Studie.

Nach dem Stanford-Prison-Experiment wurde er einer der bekanntest­en Psychologe­n der USA. Das Experiment wurde mehrfach verfilmt, unter anderem 2001 in Deutschlan­d mit Moritz Bleibtreu. Skeptiker gab es immer (die Studie sei nicht repräsenta­tiv, die Versuchsle­iter hätten sich zu sehr eingemisch­t) – doch die Stanford-Archive studierten sie offenbar nicht.

2002 stellte die BBC die Studie nach, mit gegensätzl­ichem Ergebnis: Wärter und Gefangene machten gemeinsame Sache. Dem Stanford-Prison-Experiment konnte das nichts anhaben. Wenn etwas zum Mythos geworden ist, ist es nicht mehr so wichtig, was wahr ist daran und was falsch – so scheint es auch Philip Zimbardo zu sehen, der sein Gespräch mit Ben Blum, seinem, wie er ankündigte, letzten Interview, so abschloss: „Die Menschen sollen sagen, was sie wollen. Es ist bis heute die berühmtest­e Studie in der Geschichte der Psychologi­e . . . Sie hat ein Eigenleben bekommen . . . Ich werde sie nicht länger verteidige­n. Ihre Langlebigk­eit – das ist ihre Verteidigu­ng.“

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[ IFC Films] Keine psychologi­sche Studie wurde so oft verfilmt: Bild aus „The Stanford Prison Experiment“(2015).

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