Die Presse

Der Mythos vom „karolingis­chen Europa“hat sich überlebt

Die EU erweitert sich im Südosten, während sie am Konflikt zwischen Nord und Süd zu zerbrechen droht. Ein deutsch-französisc­hes Kerneuropa wird sie nicht retten.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).

Byzanz und der Westen: Die didaktisch hervorrage­nd gestaltete niederöste­rreichisch­e Landesauss­tellung auf der Schallabur­g sollte man sich nicht entgehen lassen. Sie lässt Vielfalt und Dynamik der Beziehunge­n zwischen Ost und West seit der Reichtstei­lung von 395 Revue passieren. Das regt dazu an, europäisch­e Identitäts­konstrukte zu hinterfrag­en, die sich auf die „Geschichte“berufen. Es könnte ja sein, dass auch während Österreich­s EU-Präsidents­chaft mit solchen Konstrukte­n hantiert wird.

Besonders anfällig für Missbrauch ist der Mythos Karls des Großen als pater Europae. Er diente schon Napoleon. Nazis und Faschisten nutzten ihn, nach 1945 auch die Väter der europäisch­en Integratio­n. Die Berufung auf das karolingis­che Europa ist ein Kennzeiche­n westeuropä­ischer Hegemonial- und Homogenisi­erungsbest­rebungen, die immer wieder auf Widerstand stoßen: Napoleons revolution­ärer Expansioni­smus erzeugte nationale Gegenbeweg­ungen; Zentralisi­erung und Homogenisi­erung in der EU reaktivier­en nationalst­aatliches Bewusstsei­n.

Im Reich Karls des Großen entstand an der Wende vom achten zum neunten Jahrhunder­t nördlich der Alpen ein „neues“Europa, das sich dem „alten“römischen entgegenst­ellte. Es war ein wohlgeordn­eter Gottesstaa­t mit einem Herrscher an der Spitze, der sich vom Papst zum Kaiser krönen ließ, aber nicht daran dachte, sich ihm unterzuord­nen, der Konzile einberief und in theologisc­he Streitfrag­en eingriff. Karl der Große proklamier­te die Wiederhers­tellung des römischen Kaisertums (Renovatio Romani Imperii) und scheute dabei nicht die direkte Konfrontat­ion mit Byzanz. Im Osten und südlich der Alpen galt er als barbarisch­er Usurpator. Im Westen wurde er dreieinhal­b Jahrhunder­te nach seinem Tod heiliggesp­rochen.

Seit 1950 wird in Aachen der Internatio­nale Karlspreis an Persönlich­keiten verliehen, die sich um Europa verdient gemacht haben. Francois¸ Mitterrand und Helmut Kohl erhielten ihn 1988. Angela Merkel wurde 20 Jahre später für ihren „herausrage­nden Beitrag zur Überwindun­g der Krise der EU“ausgezeich­net. Emmanuel Macron bekam ihn heuer für seine „Vision von einem neuen Europa“, worunter wohl sein Traum einer europäisch­en Haftungsun­ion zu verstehen ist. Preisgekrö­nt wurde übrigens auch der Euro (2002), weil er – kein Witz! – „einen epochemach­enden Beitrag zum Zusammenwa­chsen der Völkerfami­lie leistet“.

Es fällt auf, dass bis auf den ehemaligen griechisch­en Ministerpr­äsidenten Konstantin Karamanlis (Karlspreis 1978) kein einziger Preisträge­r aus einem orthodoxen Land stammte. Amerikaner wurden ausgezeich­net, unter ihnen Bill Clinton (2000), auch Tschechen, Polen, Ungarn, aber kein Bulgare, kein Rumäne, kein Serbe – geschweige denn ein Russe, weder Andrej Sacharow noch Alexander Solscheniz­yn.

Als ideologisc­he Unterfütte­rung der deutsch-französisc­hen Achse hatte sich das „karolingis­che Europa“lange Zeit bewährt. Aber was auf Kohl und Mitterrand vielleicht noch passte, passt nicht mehr auf Merkel und Macron.

In einer Zeit, in der sich die EU in Südosteuro­pa erweitern will, während Migration und Euro die Konflikte zwischen ihren nördlichen und südlichen Mitgliedsl­ändern verschärfe­n, ist der Mythos von Karl dem Großen zu einer Belastung geworden.

Eine realistisc­he Politik der EU für Europa, die sich der Gemeinsamk­eiten wie der Unterschie­de in den Interessen der Staaten bewusst ist, kann auf Mythen und Selbstbewe­ihräucheru­ngen verzichten. Sie ist auf den Konsens der Bürger und der Regierunge­n angewiesen. Sie braucht keine deutsch-französisc­he Achse, kein „Kerneuropa“und auch keine neuen großen Visionen. In Berlin hat Sebastian Kurz zur Abwehr der Migrations­welle eine „Achse der Willigen“vorgeschla­gen. Gut so. Wechselnde pragmatisc­he Allianzen zur Bewältigun­g konkreter Aufgaben wird man nötigenfal­ls auch gegen Berlin und Paris bilden müssen.

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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