Der Mythos vom „karolingischen Europa“hat sich überlebt
Die EU erweitert sich im Südosten, während sie am Konflikt zwischen Nord und Süd zu zerbrechen droht. Ein deutsch-französisches Kerneuropa wird sie nicht retten.
Byzanz und der Westen: Die didaktisch hervorragend gestaltete niederösterreichische Landesausstellung auf der Schallaburg sollte man sich nicht entgehen lassen. Sie lässt Vielfalt und Dynamik der Beziehungen zwischen Ost und West seit der Reichtsteilung von 395 Revue passieren. Das regt dazu an, europäische Identitätskonstrukte zu hinterfragen, die sich auf die „Geschichte“berufen. Es könnte ja sein, dass auch während Österreichs EU-Präsidentschaft mit solchen Konstrukten hantiert wird.
Besonders anfällig für Missbrauch ist der Mythos Karls des Großen als pater Europae. Er diente schon Napoleon. Nazis und Faschisten nutzten ihn, nach 1945 auch die Väter der europäischen Integration. Die Berufung auf das karolingische Europa ist ein Kennzeichen westeuropäischer Hegemonial- und Homogenisierungsbestrebungen, die immer wieder auf Widerstand stoßen: Napoleons revolutionärer Expansionismus erzeugte nationale Gegenbewegungen; Zentralisierung und Homogenisierung in der EU reaktivieren nationalstaatliches Bewusstsein.
Im Reich Karls des Großen entstand an der Wende vom achten zum neunten Jahrhundert nördlich der Alpen ein „neues“Europa, das sich dem „alten“römischen entgegenstellte. Es war ein wohlgeordneter Gottesstaat mit einem Herrscher an der Spitze, der sich vom Papst zum Kaiser krönen ließ, aber nicht daran dachte, sich ihm unterzuordnen, der Konzile einberief und in theologische Streitfragen eingriff. Karl der Große proklamierte die Wiederherstellung des römischen Kaisertums (Renovatio Romani Imperii) und scheute dabei nicht die direkte Konfrontation mit Byzanz. Im Osten und südlich der Alpen galt er als barbarischer Usurpator. Im Westen wurde er dreieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod heiliggesprochen.
Seit 1950 wird in Aachen der Internationale Karlspreis an Persönlichkeiten verliehen, die sich um Europa verdient gemacht haben. Francois¸ Mitterrand und Helmut Kohl erhielten ihn 1988. Angela Merkel wurde 20 Jahre später für ihren „herausragenden Beitrag zur Überwindung der Krise der EU“ausgezeichnet. Emmanuel Macron bekam ihn heuer für seine „Vision von einem neuen Europa“, worunter wohl sein Traum einer europäischen Haftungsunion zu verstehen ist. Preisgekrönt wurde übrigens auch der Euro (2002), weil er – kein Witz! – „einen epochemachenden Beitrag zum Zusammenwachsen der Völkerfamilie leistet“.
Es fällt auf, dass bis auf den ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis (Karlspreis 1978) kein einziger Preisträger aus einem orthodoxen Land stammte. Amerikaner wurden ausgezeichnet, unter ihnen Bill Clinton (2000), auch Tschechen, Polen, Ungarn, aber kein Bulgare, kein Rumäne, kein Serbe – geschweige denn ein Russe, weder Andrej Sacharow noch Alexander Solschenizyn.
Als ideologische Unterfütterung der deutsch-französischen Achse hatte sich das „karolingische Europa“lange Zeit bewährt. Aber was auf Kohl und Mitterrand vielleicht noch passte, passt nicht mehr auf Merkel und Macron.
In einer Zeit, in der sich die EU in Südosteuropa erweitern will, während Migration und Euro die Konflikte zwischen ihren nördlichen und südlichen Mitgliedsländern verschärfen, ist der Mythos von Karl dem Großen zu einer Belastung geworden.
Eine realistische Politik der EU für Europa, die sich der Gemeinsamkeiten wie der Unterschiede in den Interessen der Staaten bewusst ist, kann auf Mythen und Selbstbeweihräucherungen verzichten. Sie ist auf den Konsens der Bürger und der Regierungen angewiesen. Sie braucht keine deutsch-französische Achse, kein „Kerneuropa“und auch keine neuen großen Visionen. In Berlin hat Sebastian Kurz zur Abwehr der Migrationswelle eine „Achse der Willigen“vorgeschlagen. Gut so. Wechselnde pragmatische Allianzen zur Bewältigung konkreter Aufgaben wird man nötigenfalls auch gegen Berlin und Paris bilden müssen.