Die Presse

Zwietracht vor dem Sondertref­fen zur Migration in Brüssel

Grenzschut­z und Asyl. Die Regierungs­chefs sind in der Schlüsself­rage uneins: Wie verhindert man Asylshoppi­ng?

- VON OLIVER GRIMM UND SUSANNA BASTAROLI

Brüssel/Rom. Kaum hatte sich Kommission­schef Jean-Claude Juncker dem Wunsch der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, gefügt, für Sonntag in Brüssel ein Sondertref­fen zur Migrations­politik einzuberuf­en, wäre es beinahe geplatzt. Giuseppe Conte, Ministerpr­äsident der neuen italienisc­hen Populisten­regierung, erwog unter dem Druck seines rechtsnati­onalen Vizepremie­rs und Innenminis­ters, Matteo Salvini, dieses Minigipfel­treffen mit den Staats- und Regierungs­chefs von Deutschlan­d, Italien, Österreich, Frankreich, Griechenla­nd, Bulgarien, Spanien, Malta, Belgien, den Niederland­en und Dänemark (die Visegrad-´ Länder wollen dezidiert nicht teilnehmen) zu boykottier­en, wenn die anderen Regierunge­n nicht auf eine zentrale Forderung eingehen: die Abschaffun­g des Prinzips, dass Flüchtling­e in dem Mitgliedst­aat einen Asylantrag stellen müssen, den sie als Erstes betreten. Erst danach könne man über eine Flüchtling­sverteilun­g reden. Auch an ein Veto der Beschlüsse beim Gipfel Ende Juni wird offenbar gedacht.

„Wir reisen nicht dorthin, um Hausaufgab­en von Frankreich und Deutschlan­d zu bekommen. Das wäre schade ums Reisegeld“, wetterte Salvini. Er droht ganz offen der EU: Italien könnte seine Finanzbeit­räge nach Brüssel stoppen, sollte man nicht auf Rom zugehen. Und: Um zu verhindern, dass Staaten wie Frankreich Migranten und Flüchtling­e nach Italien zurückschi­cken, sei er zur Schließung der Landgrenze­n bereit – also zum Bruch der Schengen-Regeln.

Frontex schon 2020 mit 10.000 Mann

Junckers Kommission hatte in aller Eile einen vierseitig­en Entwurf für den nächstwöch­igen Europäisch­en Rat zusammenge­zimmert, der genau das Gegenteil dieser italienisc­hen Position darstellt. „Wir sehen eine starke Notwendigk­eit, sekundäre Bewegungen deutlich zu vermindern, indem wir unter anderem rechtswidr­ige Übertritte interner Grenzen zwischen Mitgliedst­aaten von irreguläre­n Migranten und Asylwerber­n unterbinde­n und schnelle Abschiebun­gen an die zuständige­n Mitgliedst­aaten sicherstel­len.“Sekundäre Bewegungen: Darunter versteht man das Weiterreis­en von Asylwerber­n oder Wirtschaft­smigranten innerhalb der Union. Das ist ihnen nämlich grundsätzl­ich verboten. In den vergangene­n Wochen hat „Die Presse“in Gesprächen mit Diplomaten mehrerer Mitgliedst­aaten immer wieder eine Klage gehört: Abgelehnte Asylwerber entziehen sich der Abschiebun­g in ihre Herkunftsl­änder und stellen so oft Anträge in anderen Unionsmitg­liedern, bis sie irgendwo Glück haben. Es komme sogar häufig vor, dass Menschen, die in einem Unionsstaa­t Asyl erhalten haben, aber in einem anderen leben wollen, dort erneut einen Antrag stellen, oft unter falschen Identitäts­angaben. Dieses Asylshoppi­ng möchten vor allem die Zielländer der Sekundärbe­wegungen unterbinde­n, allen voran Deutschlan­d, Dänemark, Frankreich, die Niederland­e, Schweden und Österreich. Für Erstankunf­tsländer wie Italien und Griechenla­nd hingegen ist es, auch wenn ihre Regierunge­n das nie offen zugeben würden, opportun, wenn die von ihnen formal registrier­ten Asylwerber und Migranten untertauch­en und nach Norden weiterwand­ern.

Diesen Zielkonfli­kt hofft Juncker mit seinem Papier auflösen zu können, indem er neben der genannten Bekämpfung der Sekundärmi­gration dazu anregt, die Unterstütz­ung für Mitgliedst­aaten an den EU-Außengrenz­en (notabene: Italien und Griechenla­nd) für die „Aufnahme, Unterbring­ung, Schule und Gesundheit­sversorgun­g von Migranten“zu verstärken. Zudem solle die Grenz- und Küstenwach­e Frontex schon im Jahr 2020 auf 10.000 Mann erweiteret werden und das ausgebaute Mandat einer echten Grenzpoliz­ei haben, nicht erst 2027, wie die Kommission es ursprüngli­ch angeregt hat. Auch solle es eigene Asylzentre­n an den EU-Außengrenz­en geben.

Für Conte war dieses Papier dennoch inakzeptab­el. Er drohte in einem Telefonat mit Merkel mit seinem Boykott des Treffens am Sonntag, sollte dieser Text schon vorab fixiert sein. Merkel habe ihm erklärt, das Papier sei ein Missverstä­ndnis und „beiseitege­legt“, teilte Conte via Facebook mit. Der zweite Vizepremie­r und Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi Di Maio, bejubelte dies: „Endlich gibt es ein Italien, das in Europa und der Welt respektier­t wird.“

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