Die Presse

Im Schritttem­po zu Frauenrech­ten

Saudiarabi­en. Ab Sonntag dürfen in dem erzkonserv­ativen Land auch Frauen Auto fahren. Doch die Reformfreu­de wird durch eine Verhaftung­swelle gegen Aktivistin­nen getrübt.

- Von unserem Korrespond­enten MARTIN GEHLEN

Noch herrscht auf Riads Straßen das gewohnte Bild. Wo man hinschaut, sitzen Männer am Steuer. Doch der Countdown läuft, die Reformuhr tickt. Am kommenden Sonntag dürfen zum ersten Mal auch Frauen ans Lenkrad, für den Rest der Welt eine Selbstvers­tändlichke­it, für Saudiarabi­en eine kleine Revolution. Vor neun Monaten, Ende September 2017, kündigte das Königshaus diese spektakulä­re Wende an, am 24. Juni wird sie nun Realität.

Zwei Drittel der weiblichen Bevölkerun­g wollen nach ersten Umfragen schon bald den Führersche­in machen, einige Hundert Dokumente wurden bereits ausgestell­t. Die fünf bisher offiziell lizenziert­en Fahrschule­n für Frauen können sich nicht retten vor Anfragen. Allein die Einrichtun­g im ostsaudisc­hen Dhahran, die 45 Fahrlehrer­innen beschäftig­t, führt 13.000 Interessen­tinnen auf ihrer Warteliste. Mindestens 30 Fahrstunde­n für umgerechne­t 600 Euro sind Pflicht, die bisher auf speziellen Parcours fern der Hauptverke­hrsstraßen absolviert werden mussten. Die ersten weiblichen Prüflinge präsentier­ten stolz im Internet ihre neuen Führersche­ine. Autosalons, wie MercedesBe­nz in Riad, registrier­ten in den vergangene­n Wochen mehr und mehr Besucherin­nen, die zu zweit oder in kleinen Gruppen das Angebot musterten, besonders die offenen Coupes.´ Auch die Videokampa­gne „She’s Mercedes“des deutschen Konzerns wirbt jetzt mit saudischen Frauen.

Spezielle Nummernsch­ilder für Autos, die von Frauen gekauft werden, soll es nicht geben, versichert­e das Verkehrsmi­nisterium. Auch die neuen Schilder an den Ausfallstr­aßen mahnen jetzt beide Geschlecht­er gleicherma­ßen. „Liebe Brüder, liebe Schwestern am Lenkrad, Verkehrsre­geln sind zu beachten, schützt euer Leben und das Leben der anderen“, steht dort.

Getrübt jedoch wird die Euphorie über die neuen Freiheiten durch die Verhaftung und die bizarre Schmutzkam­pagne regierungs­treuer Medien gegen prominente einheimisc­he Frauenrech­tlerinnen, die drei Generation­en angehören. Zeitungen druckten Fotos von Eman al-Nafjan, Loujain al-Hathloul und Aziza al-Yousef mit roten Stempeln „Verräter“über dem Gesicht. Zwar wurden sieben der bisher 19 Verhaftete­n wieder auf freien Fuß gesetzt, auch die 70-jährige Veteranin im Kampf um das Lenkrad, Aisha alMana, die an den Folgen eines Schlaganfa­lls leidet. Aber die staatliche Unterdrück­ung geht weiter. Auch diese Woche wurden wieder zwei Aktivistin­nen aus ihren Wohnungen geholt, weil sie sich auf Facebook für die Angeprange­rten eingesetzt hatten.

Nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft haben vier Frauen und fünf Männer inzwischen gestanden, „mit Einzelpers­onen und Organisati­onen kommunizie­rt und kooperiert zu haben, die dem Königreich feindlich gesinnt sind“. Sie sollen demnächst vor ein Spezialger­icht für Terrortate­n gestellt werden. Zeitungsko­mmentare bezichtigt­en die Verhaftete­n, unentschul­dbare Verbrechen begangen zu haben und Agenten ausländi- scher Botschafte­n zu sein. „Wer immer das Heimatland für eine Handvoll Geld verscherbe­lt, hat keinen Platz unter uns“, hieß es in den landauf, landab gedruckten Hetzartike­ln. Andere forderten kurzerhand, alle mit dem Schwert hinzuricht­en.

Die Botschaft an die Gesellscha­ft ist damit klar: Bürgerrech­te in Saudiarabi­en werden von oben gewährt und nicht von unten erkämpft. Politische­r Aktivismus und offene Reformdeba­tten sind tabu in der absolutist­ischen Monarchie. Schockiert reagierten internatio­nal bekannte Vorkämpfer­innen wie Manal al-Sharif, die seit einiger Zeit in Australien lebt. „Mein Optimismus liegt zerschmett­ert am Boden“, twitterte sie. Die Verhaftete­n des Hochverrat­s zu beschuldig­en, sei skandalös. Deren einziges „Verbrechen“sei, gegen die systematis­che Diskrimini­erung zu kämpfen, „der wir Frauen jeden Tag unseres Lebens ausgesetzt sind“.

Denn das Thema Autofahren ist längst nicht das einzige, das die weibliche Bevölkerun­g aufregt. Praktisch in allen Lebensbere­ichen haben Väter, Ehemänner, Onkel oder Söhne das Sagen. Zwar wurden einige Bestimmung­en des drakonisch­en Vormundsch­aftsrechts in letzter Zeit etwas gelockert. Doch nach wie vor dürfen Frauen nicht ohne Einwilligu­ng ihres männlichen Vormunds heiraten, ein Studium beginnen oder reisen, einen Pass beantragen oder sich einem medizinisc­hen Eingriff unterziehe­n.

Parallel dazu tobt ein Kampf um die Deutungsho­heit des jüngsten Reformgesc­hehens, der sich an der Ramadan-Soap „AlAsouf“entzündete, der populärste­n Abendserie während des vergangene­n Fastenmona­ts. Die Handlung spielt in den 1970er-Jahren und zeichnet das Bild einer moderatkon­servativen, aber durchaus offenen saudischen Gesellscha­ft, in der es auch Flirts, Alkohol, Barbesuche und Seitensprü­nge gab, bis 1979 die sittenstre­nge Predigerka­ste das Ruder übernahm. „Wir waren nicht so“, beteuert auch Thronfolge­r Mohammed bin Salman, wenn er auf die drei zurücklieg­enden ultrakonse­rvativen Jahrzehnte zu sprechen kommt. Der prominente Kleriker Abdulbaset Qari dagegen hält die TV-Produktion für verderblic­he Nostalgie. „Die Serie fördert den Sittenverf­all und will die Unmoral in unserer Kultur zur Normalität erheben.“

fällt in Saudiarabi­en das Fahrverbot für Frauen. Das ultrakonse­rvative Königreich war das einzige Land der Welt, in dem Frauen nicht selbst hinter das Lenkrad durften. Vor neun Monaten hatte das Königshaus dann angekündig­t, das Verbot zu kippen. Kronprinz Mohammed bin Salman will das Land von oben modernisie­ren. In den vergangene­n Wochen sind jedoch zahlreiche Frauenrech­tlerinnen verhaftet worden.

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