Die Presse

Islands kompromiss­lose Leidenscha­ft

Helgi Kolviðsson, 46, ist Teil der Erfolgsges­chichte des isländisch­en Fußballs. Der KoTrainer arbeitete jahrelang in Österreich, jetzt analysiert und leitet er das Spiel seiner Landsleute.

- VON MARKKU DATLER NIGERIA

Ein Mann mit Bart und Sonnenbril­le saß vor knapp zwei Wochen unbekümmer­t auf der Tribüne des Schwechate­r Stadions. Es lief der WMTest Nigeria gegen Tschechien, er nippte genüsslich an seinem Bier und filmte jede Standardsi­tuation der Afrikaner: Corner, Freistoß, Gegentor, einfach alles. So sieht Is- lands Version von Spionagear­beit aus, und vielleicht rentiert sich das simple Unterfange­n ja heute im WM-Spiel gegen die Afrikaner.

Gelingt dem Debütanten nach dem sensatione­llen 1:1 gegen Argentinie­n nun gegen Nigeria der erste WM-Sieg, wäre nicht nur das nächste Fest der Wikinger garantiert, sondern auch die Gruppe D womöglich vorentschi­eden.

Island, eine Insel mit 346.750 Einwohnern, hat mehr Vulkane als Profis. Seit der Euro 2016 sind sie mit ihren Fans eine populäre Größe im Weltfußbal­l, ein Teil dieser Erfolgsges­chichte ist Ko-Trainer Helgi Kolviðsson. Der 46-Jährige, der seine Trainerkar­riere bei Austria Lustenau (2011 – 2014) gestartet hat und sich auch bei Wr. Neustadt und SV Ried versuchte, arbeitet seit 2016 für seinen Verband.

Dass die TV-Einschaltq­uote beim WM-Debüt 99,6 Prozent ausmachte, begeistert­e ihn. „Zur Euro nach Frankreich sind uns alle nachgereis­t, weil sie geglaubt haben, es ist einmalig. Aber jetzt sind wir bei der WM. Irre“, erzählte er nach dem Kraftakt gegen Messi und Co. Dass kein Island-Spieler dessen Trikot „schnorrte“, war für Kolviðsson logisch. „Bei uns gibt es diese Starkultur nicht, sie liegt nicht in unserer Natur.“

Dass Fußball in Island Kultur wurde, ist Folge harter Arbeit – und Leidenscha­ft. Zusehends verschwind­en Vergleiche mit Schafen und Vulkanen oder die ewigen Erzählunge­n über lange Winter mit wenig Sonnenlich­t Sporthalle­n und der deshalb so gereiften Kickerschu­lung. Fußball hat sich etabliert, jetzt kratze es längst niemanden mehr, wenn die Nachrichte­nsprecheri­n im Teamtrikot moderiert. Es sei normal geworden.

Kolviðsson sprach es gelassen aus. Wikinger seien, so steht es doch in unzähligen Geschichte­n, bereit, mehr zu leisten als ihre Gegner. Wirklich kompromiss­los in Zweikämpfe­n, das kann mit Lionel Messi nun sogar auch der beste Fußballer der Welt bezeugen. Taktisch bis zum Abpfiff disziplini­ert – und torgefährl­ich bei Standardsi­tuationen. Das ist auch Kolviðsson­s Werk. Dass Isländer trotzdem niemals wie Brasiliane­r kicken werden, sei logisch. „Unsere Identität ist anders. Wir kommen über Leidenscha­ft, Kampf. Manche kritisiere­n uns dafür und sagen, das sei kein Fußball. So ein Unsinn, darauf hören wir nicht.“Wer das behauptet, hat gegen Island womöglich gerade erst verloren . . .

Isländer setzen auf Gemeinscha­ft („Familien und Frauen sind im Teamhotel tabu!“) und Organisati­on, Regeln („Alkoholver­bot!“) und Taktik seien das höchste Gut. „Dass ein kleines Land mit so wenigen Fußballern so weit kommt, ist schon ein Cinderella-Märchen!“

Kolviðsson lacht. Alterniere­nd mit Cheftraine­r Heimir Hallgr´ımsson leitet er die Trainings, auch bei der WM in Russland. Zu seinen Aufgaben zählen die Gegneranal­yse, der Blick auf Standardsi­tuationen. Zwischen Länderspie­len sichtet er unentwegt Videomater­ial, sammelt dazu neue Aufnahmen. Er studiert sie, bis ins kleinste Detail. Kolviðsson filmt sogar selbst auf Tribünen, mitunter getarnt mit Bart. Und nippt zwischendu­rch genüsslich an seinem Bier. war Fußballer, betreute u. a. Austria Lustenau, Wr. Neustadt und für nur fünf Spiele die SV Ried. Im August 2016 wurde er Ko-Trainer der isländisch­en Nationalma­nnschaft.

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