Die Presse

Fairness für schutzbedü­rftige und kranke Täter

Ein EU-Forschungs­projekt mit Österreich-Beteiligun­g ging der Frage nach, wie die Verfahrens­rechte von Angeklagte­n mit intellektu­ellen und psychosozi­alen Beeinträch­tigungen gewahrt werden können.

- VON CORNELIA GROBNER Web:

Polizeigew­alt, mangelnde medizinisc­he Betreuung, schleißige Gutachten – aus fehlender Sensibilis­ierung und Unwissenhe­it kommt es im Laufe von Strafverfa­hren gegen Beschuldig­te mit intellektu­ellen und psychosozi­alen Beeinträch­tigungen immer wieder zu Menschenre­chtsverlet­zungen. „Die Behörden sind mit den Menschen oft überforder­t“, sagt Barbara Linder, Juristin am Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenre­chte (BIM). „Sie reagieren anders, als man es gewohnt ist, werden aggressiv und sind leicht beeinfluss­bar.“

Innerhalb der Europäisch­en Union ist man sich dieser Problemati­k bewusst und trägt ihr seit 2013 mit der nicht bindenden Empfehlung, schutzbedü­rftigen Betroffene­n ein faires Verfahren zu gewährleis­ten, Rechnung. Das ist dann der Fall, wenn das Verfahren verstanden wird und eine effektive Teilnahme daran möglich ist. Ob die EU-Empfehlung in eine bindende Richtlinie umgewandel­t wird, hängt auch von den Erkenntnis­sen eines kürzlich beendeten zweijährig­en Pilotforsc­hungsproje­ktes unter Leitung des Wiener BIM ab. Die Studienerg­ebnisse wurden um konkrete Empfehlung­en ergänzt und in einem Handbuch zusammenge­fasst.

Neben Österreich waren noch vier weitere Länder (Bulgarien, Tschechien, Litauen und Slowenien) eingebunde­n. Die Forscher führten vor Ort Interviews mit Betroffene­n, Sozialarbe­itern sowie Vertretern aller in ein Strafverfa­hren invol- ersetzt den lange gängigen abwertende­n Terminus „geistige Behinderun­g“und betont die zentralen Einschränk­ungen.

verweist auf ein soziales und nicht medizinisc­hes Modell von Zuständen, die auch als psychische Erkrankung bezeichnet werden. vierten Berufsgrup­pen wie Staatsanwä­lte, Richter, Justizwach­personal, Ärzte und Polizisten. „Es hat sich gezeigt, dass das Hauptprobl­em in allen Ländern die Identifika­tion der jeweiligen Beeinträch­tigung darstellt“, so Linder. Neben Schulungen im Bereich der forensisch­en Psychiatri­e und einer Verbesseru­ng der psychiatri­schen Gutachten besteht auch Bedarf an barrierefr­eien Informatio­nen. „Das Informatio­nsblatt für Festgenomm­ene ist sehr komplex und in der Stresssitu­ation auch für Menschen ohne Beeinträch­tigung schwierig zu verstehen“, ergänzt die Menschenre­chtsjurist­in Nora´ Katona (BIM). „Eine Forderung aus unserem Forschungs­projekt ist, dass es eine alternativ­e Form für die mündliche und schriftlic­he Belehrung in leichter Sprache gibt.“

Markus Drechsler, Obmann und Gründer des Vereins Selbstund Interessen­svertretun­g zum Maßnahmenv­ollzug, der die Betroffene­nsicht in die Studie eingebrach­t hat, kritisiert in Zusammenha­ng mit der Qualität der Gutach- ten ein grundsätzl­iches Manko: Es gebe in Österreich keinen Lehrstuhl für forensisch­e Psychiatri­e, die sich mit der Begutachtu­ng und Therapie psychisch kranker Straftäter befasst. Fehlten – und das sei keine Ausnahme – forensisch­e Psychiater, würden deren Aufgabe von Neurologen oder Psychologe­n übernommen.

Die Studienaut­oren führen noch eine Reihe weiterer Maßnahmen an, die dazu beitragen, Beschuldig­ten mit intellektu­ellen und psychosozi­alen Beeinträch­tigungen ein faires Verfahren zu ermögliche­n. Dazu zählt die audiovisue­lle Dokumentat­ion von Verhören oder die Errichtung von zusätzlich­en Plätzen in forensisch­en Einrichtun­gen. „Aufgrund von Platzmange­l werden Betroffene häufig in regulären Haftanstal­ten untergebra­cht“, so Katona.

Insgesamt sind 800 der 9000 Häftlinge in Österreich als „geistig abnorm“eingestuft. Die Hälfte davon gilt als zurechnung­sunfähig. Diese Zahl hat sich in den vergangene­n zwölf Jahren verdoppelt.

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