Wie definiert man Musik?
Seit Alfred Brendel seine Pianistenkarriere beendet hat, unterrichtet und schreibt er, wird zuweilen, wie kürzlich, auch in alten Rundfunkaufnahmen fündig, die kürzlich als CD herausgekommen sind; und jüngst hat er wieder ein neues Buch vorgelegt: „Die Dame aus Arezzo. Sinn, Unsinn und Musik“, erschienen im Hanser Verlag, München. Ein Gespräch über Leben und Karriere, Interpretationsfragen, Sprache und die Notwendigkeit von Geduld.
Alfred Brendel, wann waren Sie sich sicher, dass Sie Musiker werden wollten? Spätestens als 17-Jähriger, nach meinem allerersten Klavierabend in Graz. Ich hatte ja auch komponiert, geschrieben, gelesen, gemalt und gezeichnet. Das Schreiben hat mich später wieder eingeholt und wurde zu meiner zweiten Existenz. Wer hat Sie zur Musik gebracht? Welche Rolle spielte Ihr Elternhaus? Meine Eltern waren weder musikalisch noch intellektuell, doch hatten beide als Kinder ein paar Klavierstunden bekommen – Bestandteil einer bürgerlichen Erziehung, die nun mir zuteil wurde. Ein Ehrbar-Flügel war vorhanden. Da wir aber keine Musik hörten oder in Konzerte gingen, war das eine relativ langsame Entdeckungsreise. War es schon immer das Klavier, das Sie am meisten fasziniert hat? Ich lernte andere Instrumente und den Gesang erst später kennen. Inzwischen habe ich meine einseitige Hinwendung zum Klavier kompensiert und unterrichte gerne Streichquartette. Auch habe ich seit Langem das Klavier mit Vorliebe orchestral behandelt, während mich Lieder- und Opernsänger inspiriert haben, cantabile zu spielen. Sie sind im heutigen Tschechien geboren, kamen durch die verschiedenen Berufe Ihres Vaters viel in Jugoslawien und Österreich herum, lebten in Wien und sind Anfang der 1970er nach London gezogen. Wie sehr prägt ein mit unterschiedlichen Kulturen verbundenes Leben die Interpretation? Das ambulante Leben hat es mir erspart, irgendwo verwurzelt zu sein. Wenn man mich lokalisieren will, bin ich bestenfalls Europäer. Einen möglichst weiten Horizont zu haben wird vielleicht auch dem Interpreten zugute kommen. Ich zögere aber, vom Privatmenschen auf den Künstler zu schließen. Das führt oft in die Irre. Sie haben in Graz studiert, unter anderem bei einer Enkelschülerin von Franz Liszt, Ludovica von Kaan. Stammt aus dieser Zeit Ihre besondere Affinität zum Werk von Liszt? Ich erinnere mich nicht, dass Frau von Kaan mich besonders zum Liszt-Spielen ermutigt hätte. Doch spielte ich schon bei meinem ersten Auftritt im Grazer Konservatorium Funerailles, Mazeppa und die Fantasie und Fuge über B-A-C-H. Es machte mir Spaß, eine Lanze für Liszt zu brechen. Er galt ja damals als bloß oberflächlich und bombastisch. Zu seinen besten Werken gehören die h-Moll-Sonate, die ersten beiden Bände der Annees´ des pelerina-´ ge und die Variationen über „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“. Sie zählen zu den wenigen musikalischen Interpreten, die auch ein besonderes Faible für das Wort haben. Die Absicht, diese Fähigkeit und dieses Wissen an einer Universität weiterzugeben, hatten Sie nie? Das ist eine gute Frage. Ich selbst war ja nie an einer Universität, weder als Student noch als Lehrer. Musikhochschulen hießen früher noch Konservatorien. Mein Unabhängigkeitsdrang hat mich daran gehindert, jemals Bestandteil einer Anstalt zu sein, und ich hatte genügend Glück, damit durchzukommen.
Das Wissen, das ich vielleicht besitze, und meine Einsichten ins Klavierspiel habe ich mir überwiegend selbst erworben. Im vorgerückten Alter habe ich Vorträge an europäischen und amerikanischen Hochschulen und Festivals gehalten und wurde von vielen Universitäten geehrt. Das hat mich gefreut. Aber ich hielt mich nie für einen Akademiker im strengen Sinn. Mein neues Buch, „Die Dame aus Arezzo“, wird dies einmal mehr beweisen. Dazu kam in meinen Konzertlücken die Beratung von jungen Konzertpianisten und, am liebsten, von Streichquartetten. Das ist immer noch die beste Möglichkeit, die praktische Erfahrung eines Interpreten mitzuteilen.
Als Rainer Maria Rilke, damals Sekretär von Auguste Rodin, diesen fragte, wie man als Künstler leben soll, antwortete er: Man muss arbeiten, nichts als arbeiten und Geduld haben. Wie sehen Sie das? Die meisten Menschen sind ungeduldig, wie ich bemerkt habe. Mir hat es zum Glück nicht an Geduld gefehlt. Es gab da eine Begabung, aber man musste sehen, wie weit sie führen würde. Ich hatte wahrgenommen, dass Pianisten sich langsamer entwickeln als Geiger: Ihre Aufgabe ist komplexer. Mit „nichts als arbeiten“bin ich allerdings nicht einverstanden. Für mich war es wichtig, mich nicht kaputt zu üben. Die Literatur, der gesamte Bereich der Künste einschließlich Architektur, Theater und Film waren zu erkunden. Auch die Welt, wie sie leider ist, und die manchmal hinreißenden Menschen wollte ich wahrnehmen. Wie man das alles macht? Meine innere Uhr hat ziemlich gut funktioniert. Wenn Sie von jungen Musikern gefragt werden, was raten Sie ihnen? Hilft der Erfolg bei einem Wettbewerb weiter, oder sollte man besser auf einen Lehrer setzen, der auch viel praktische Erfahrung mitbringt? Das ist ganz verschieden. Lehrer können die Entwicklung wunderbar fördern, aber auch viel verderben. Es ist wichtig, von anderen zu lernen, noch wichtiger, Dinge selbst herauszufinden. Was Wettbewerbe betrifft: Es gibt sogar Preisträger, die einen anhaltenden Erfolg haben. Die kurzen Wochen, die ich in Edwin Fischers Meisterkursen verbrachte, wirken immer noch nach. Sie zählen zu den am besten dokumentierten Interpreten. Vor drei Jahren sind in einer Box jene Aufnahmen herausgekommen, die Sie für Ihre langjährigen Firma, Philips, mittlerweile Decca, aufgenommen haben: insgesamt imposante 114 CDs. Bereits hier werden zwei Live-Mitschnitte angekündigt, die nun kürzlich erschienen sind, beide stammen von Wiener Konzerten. Wie ist es dazu gekommen?
Vielleicht sollte ich hier einfügen, dass vor den Philips/Decca-Aufnahmen noch mehrere Dutzend Langspielplatten bei kleineren Firmen erschienen sind. Auch die sind, glaube ich, noch im Handel. Die neue CD mit Schumann und Brahms ist ein sehr willkommener Nachtrag und Abschluss. Ich habe, wo immer es möglich war, Rundfunkaufnahmen meiner Konzerte gesammelt, und diese beiden Funde sind mir besonders teuer.
Im Booklet zu dieser quasi nachgereichten Aufnahme sprechen Sie am Beispiel des Schumann-Konzerts ein grundsätzliches Problem an: das Spannungsfeld zwischen genauer Beachtung der Vorschriften und subjektiver Deutung durch den Interpreten. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Wohl nur mit Annäherungswerten . . .
Der große Alfred Cortot, dessen Klavierspiel ich sehr verehre, hat in den 1930er-Jahren eine berühmte Aufnahme des SchumannKonzerts gemacht. Ich hörte sie als junger Mensch. Das ist also das Schumann-Konzert, dachte ich. Erst später fiel mir auf, dass Cortot in seiner Aneignung viel zu weit gegangen war. Schon die Tempobezeichnung „Allegro affettuoso“ist missverstanden. Affettuoso wird gerne mit „appassionato“verwechselt. Dabei bedeutet es „empfindsam“, englisch: „affectionate“.
Bereits die genaue Beachtung der Vorschriften ist zu einem gewissen Grad subjektive Deutung. Wer sich aber über die Vortragszeichen einfach hinwegsetzt und Kompositionen lediglich als Rohmaterial behandelt, welches man nach Herzenslust zurechtknetet, hat selten meine Sympathie. Die Komponisten haben sich Mühe gemacht, uns darauf hinzuweisen, wie ein Stück gespielt werden soll. Und sie haben meistens recht.
Lassen Sie uns noch einen Blick in Ihre Werkstatt werfen: Wenn Sie sich einem neuen Werk zugewandt haben, wie haben Sie es sich erarbeitet? Nur durch die Noten, zusätzlich durch Information aus der Literatur? Welche Rolle hat das Wissen um biografische Zusammenhänge gespielt? Wie sehr hat Sie die eine oder andere Deutung des Stücks beeinflusst?
Ja, da sind zunächst die Noten. Aber zu Schumann gehören Hoffmann und Jean Paul, zu Liszt Senancours „Oberman“. Dann sind da die Aufführungen, die man schon kennt. Ich bin nicht der Meinung, dass man keine fremden Aufführungen anhören darf, damit man sich ein Stück möglichst unkontaminiert erarbeitet. Man kann ja auch kritisch hören, aus Aufführungen lernen, wie man es nicht machen soll.
Am wenigsten nahrhaft scheinen mir biografische Zusammenhänge. Der Mensch und der Künstler sind keine Gleichung. Es gibt allerdings besondere Fälle, die uns berechtigen, ein Erlebnis des Künstlers mit einer Komposition zu assoziieren. So hat Beethoven die Sonate Opus 110 nach einer schweren Gelbsucht komponiert: „poi a poi di nuovo vivente“heißt es da – allmählich ins Leben zurückkehrend. Allerdings hat Beethoven diesen Zustand auch schon vorher und nachher musikalisch ausgedrückt. Oscar Wilde hat einmal gesagt: Die Musik ist der vollkommenste Typus der Kunst – sie verrät ihr letztes Geheimnis. Sieht man das als Interpret, der stets auf der Suche ist, diesen Geheimnissen auf die Spur zu kommen und sie bestmöglich zu dechiffrieren, auch so? Gab es ab und zu auch Gespräche mit Kollegen?
Musik gibt nichts Sichtbares wieder, und sie kommt ohne Sprache aus. Oder wie Goethe sagt: Die Würde der Kunst erscheint bei Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müsste. Das macht sie mysteriöser als die anderen Künste. Geheimnisse sollen Geheimnisse bleiben. Zu Gesprächen mit Freunden: Murray Perahia war völlig von Heinrich Schenkers analytischer Methode gefesselt, bis er herausfand, dass jedes Musikstück eine Handlung enthält, eine literarische Situation repräsentiert . . .
Wie würden Sie Musik definieren? Oder hat Beethoven mit seinem Satz, dass Musik eine höhere Offenbarung sei als alle Weisheit und Philosophie, schon das Wesentlichste gesagt?
QBeethoven mag schon recht haben. Aber muss man Musik definieren? Definiert man ein Mysterium?