Ein Hideaway ganz am Ende der Pier
Niederlande. „Pier Suites? Nein, die kennen wir nicht“, sagen die Taxifahrer. „Ein Hotel soll das sein? Sind wir noch nie angefahren.“
Dann also doch mit der Tram Nr. 9 vom Hauptbahnhof Den Haag zum Stadtteil Scheveningen. Sechs Kilometer. Fünfzehn Minuten Sightseeing: Sonnenglänzende Backsteinfassaden, hohe Fenster, lackierte Holzrahmen, gestreifte Markisen. Die klassizistische Fassade: Museum Mauritshuis. Hinter ihr schaut Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“aus seinem goldenen Rahmen. Ströme von Fahrradfahrern rauschen auf Wegen parallel zum Fluss von Autofahrern. Ella, Kamerafrau, kann ihren Eindruck an keiner Sache festmachen. Dennoch ist es greifbar: etwas Lockeres, etwas Kosmopolitisches. Liegt in der Luft. Kommt von den Menschen.
Haltestelle Kurhaus. Ella steigt aus. Sie ist auf der Zielgeraden ins Abschalten nach einem aufreibenden Dreh. Noch umgeben sie Hochhaustürme und Glasfronten. Die berühmte Pier ist nirgends zu sehen, nicht einmal das Meer. „Pier Suites?“, wiederholt mit wissendem Lächeln der Mann im schiefergrauen Anzug. „Eine Minute die Straße geradeaus, dann links die Treppe runter zum Strand, und Sie sind da.“
Klack, klack, klack, läuft Ella zwischen grauen Hauswänden die Stufen hinunter, findet sich abrupt am Strand wieder, aber nicht auf Sand. Auch die Pier über dem Meer liegt außerhalb ihres Blickfelds. Nur das, was vermutlich ihr Anfang ist, dieses mächtige Gebilde auf Streben aus Stahl. Über Steinplatten geht sie ein paar Dutzend Schritte auf das runde Objekt zu, das an ein gerade gelandetes Raumschiff erinnert.
Hier müssen die Pier Suites sein; auch, wenn es nicht dransteht. Der Eingang öffnet sich au- tomatisch in einen hohen, fast leeren Raum. Wo ist die Lobby? Die junge Frau, über deren Kopf der Hinweis „Tickets Riesenrad“steht, sie wird es wissen. Während Ella auf den Tresen des taupe-farbenen Infostands zugeht, entdeckt sie das tief angebrachte Logo: „De Pier Suites Receptie“.
„Mara“, macht sich die Rezeptionistin bekannt. Groß, schlank. In legeres Schwarz gekleidet. Glattes, glänzendes Haar. „Ich begleite Sie zu Ihrer Suite“, sagt sie, verschließt ein Fach, verlässt den Stand und führt Ella zwischen schlendernde Menschen. In eine Wandelhalle? Eine Gangway? „Hier beginnt das Unterdeck der Pier“, erklärt Mara. Glaswände in V-Form. Darin Öffnungen zu langen, schmalen Balkonen, auf denen Leute sitzen, plaudern, in Kaffeetassen rühren. Türen zu Suiten sind nirgends auszumachen. Strand und Weitblick ohne Ende. „Wir spazieren fünfundvierzig Meter über dem Meer“, erzählt Mara. Und das Meer zischt unter ihnen in schaumigen Wellenzungen auf hellen Sand. Leute, die an der Bar sitzen, schauen zu, sehen Schübe von Sonnenlicht über die unermessliche Fläche rauschen. Der Mann mit Hut und silberbeschlagenem Gürtel hat dafür kein Auge. Er spielt Billard, selbstvergessen. Ein anderer kickert am Tisch nebenan.
„Geht’s hier zu den Suites?“, fragt Ella mit Blick auf die Treppe, die inmitten des Unterdecks zur Decke strebt. „Nein“, sagt Mara lächelnd, die Treppe führt aufs Oberdeck. Zu den Suiten geht’s weiter geradeaus.“Am PommesStand bleibt sie kurz stehen. Alles Design. Quadratischer Tresen mit breiten, schwarzen und weißen Streifen. Stapel von Säcken prallvoll mit ungeschälten Kartoffeln daneben. Alte und Junge strecken die Hände nach rot-weiß karierten Papiertüten mit Fritten aus. „Sind extra gut“, sagt Mara, „außen knusprig, innen mit Schmelz. Junkfood gibt es auf der Flaniermeile der Pier nicht. Die Snacks hier sind zum Weitererzählen köstlich.“
Sie gehen vorbei an üppig gepolsterten Ledersofas, Sesseln mit Leuten darin, die hier ihre Snacks aus den Imbissständen verzehren und sich ihre Einkäufe aus den Souvenir-Shops zeigen. Farbenrauschende Spielautomaten locken. „Jetzt kommt die Tür zu den Suites?“, fragt Ella. „Nein, da geht es runter zum Steg, der zum Riesenrad führt“, weiß Mara. Ella überlegt, ob die allgegenwärtige Sicht auf Strand und Meer die Besucher entschleunigt.
Dann ist da unversehens der Ausgang und im Gesicht: Wind, Sonne und Salzluft. „Ende des Unterdecks“, sagt Mara. Von hier aus führt in luftiger Höhe ein Steg geradewegs zum Panorama-Restaurant im Bungee-Turm. Kein noch so kleines Zeichen verweist auf Suites. „Gleich sind wir da“, sagt Mara. Ein Stück Treppe hinunter. Ein hüfthohes Törchen mit verwittertem Schildchen: Durchgang nur für Befugte. Ist nur angelehnt. Auf. Zu. Noch eine Treppe tiefer. Tiefer geht’s nicht. Hier ist nichts. Kein Mensch, kein Stuhl. Nur Hinterhofmauer. Wovon? „Wir sind unterhalb des Bungee-Turms“, sagt Mara. „Kein Wunder, dass noch kein Taxifahrer vorgefahren ist. Ist es hier immer so still?“, fragt Ella. „Hier endet die Pier“, antwortet Mara, „nur Gäste der Pier Suites finden hierhin.“
Das elektronische Schloss piept; die Tür schwingt auf. Ein kleiner, fensterloser Raum mit zwei petrolfarbenen Memphis-Sesseln vor rundem Tisch und Wandtapete: Schwarz-Weiß-Foto der historischen Pier. Gegenüber fünf Türen im Halbrund der Wand. Mara öffnet die Nummer 4. Ella schluckt. „Wie viele Meilen bin ich gegangen, um das zu sehen?“„Dreihunderteinundachtzig Meter“, sagt Mara lachend, „so lang ist die Pier.“Ihr Ende – das Ende der Welt. Offenes Meer. Das Atmen des Meeres. Horizont.
Von dort rollt eine lange Dünung auf Ella zu, rauscht sieben Meter tiefer unter ihr hindurch. Terrasse und Suite schwingen ganz sacht. Das macht weltvergessen, wie auf einem vor Anker liegenden Schiff. Ella stellt sich vor, wie die Wellenzungen weit hinter ihrem Rücken den Strand erreichen. Sie öffnet die Bar. Weinflaschen, Wasser, Softdrinks, Bier. „Gratis. So halten wir es hier“, hatte Mara gesagt, bevor sie ging.
Ella stellt ihr Glas auf den runden Tisch neben der frei stehenden Badewanne mit Whirlpool-Potenzial, setzt sich in den tannengrünen Memphis-Sessel und legt die Füße auf das silbergrau bedeckte Fußende vom Bett. Was ist hinter der Glastür neben dem Kopfende? Sie schiebt sie zurück: ein Raum mit Waschkonsole und Regenschauerdusche in gedämpftem Licht. Ella dreht sich um, dem Panoramafenster zu. Unter bauschenden Vorhängen weht die Brise von der See her in das helle Zimmer mit der hohen Decke.
Sie nimmt ihr Glas und geht auf die geräumige Terrasse aus Bangkirai, diesem geriffelten Holz. Kein fremder Blick könnte sich je hierhin verirren. Sonne bricht aus den Wolken, bringt am Horizont weiße Segel zum Leuchten. Ella ist überwältigt von der Sicht, der Stille, dem Gefühl, allein mit dem Meer zu sein, der Hektik zu entkommen, endlich Ruhe zu haben. Otis Redding fällt ihr ein: „I’m sittin’ on the