Die Widerstände des Weltmeisters
Deutschlands Sieg gegen Schweden beruhte nur bedingt auf Glück, die Löw-Elf entdeckte alte Tugenden für sich. Die WM aber bleibt ein kaum zu gewinnender Kampf an mehreren Fronten.
Eigentlich war das Drehbuch fertig geschrieben, das Schicksal der deutschen Nationalmannschaft besiegelt. Nur 1:1 gegen Schweden, das so nahe Ende aller WM-Träume hätte auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Schlusspunkt hinter die Ära Jogi Löw gesetzt. Es lief die 95. Minute. Freistoß, eine allerletzte Chance. Toni Kroos tritt an, er trifft mitten ins schwedische Herz, mitten ins linke Kreuzeck. 2:1 für Deutschland. Jubel, Erleichterung, Genugtuung in Schwarz-Rot-Gold. Einige Augenblicke später ist von einem „Sieg der Moral, des Nichtnachlassens und An-sich-Glaubens“die Rede, so formuliert es Löw und liegt damit richtig. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen. Mancher Beobachter sieht das historisch gewachsene deutsche Glück strapaziert.
Der späte Siegtreffer, dazu der Beistand des Unparteiischen, als Jer´omeˆ Boateng in der zwölften Minute Marcus Berg im Strafraum regelwidrig zu Fall brachte: Es hätte Rot und Elfmeter geben können, gab es aber nicht. Deutschlands Sieg beruhte auch, aber nicht nur auf Glück, exemplarisch dazu der Stangenschuss von Julian Brandt in der Schlussphase. Toni Kroos, der Held des Abends, sagte nach dem Spiel Bemerkenswertes. In den Tagen vor dem Spiel gegen Schweden habe er den Eindruck gewonnen, dass sich „auch in Deutschland viele gefreut hätten, wenn wir schon heute rausgegangen wären“. Der 28-Jährige legte einen Finger in die Wunde und sprach das zerrüttete Verhältnis zwischen Fußballöffentlichkeit und Nationalmannschaft an.
Vom bedingungslosen Rückhalt, dem Zusammenhalt einer ganzen Nation, dem gelebten Geist von Brasilien 2014 ist vier Jahre später erstaunlich wenig übrig. Zerschnitten wurde das Band nicht erst nach dem 0:1 gegen Mexiko zum WM-Auftakt, dieser Prozess hatte viel früher begonnen. Schon die Vorbereitung auf Russland weckte Zweifel. Die Tests gegen England (0:0), Frankreich (2:2), Spanien (1:1), Österreich (1:2) und Saudiarabien (2:1) hatten keinerlei Euphorie ausgelöst, stattdessen aber Probleme aufgedeckt. Nach der Niederlage gegen Mexiko potenzierte sich der Ärger, das Pulverfass explodierte.
Schon viele Jahre war eine deutsche Nationalmannschaft nicht mehr so kopflos aufgetreten, sie leistete sich verheerende Fehler im Spielaufbau, die Balance zwischen Offensive und Defensive wurde schmerzlich vermisst. Das Schweden-Spiel legte Deutschlands Dilemma abermals dar, gegen eine im Konter stärkere Mannschaft mitsamt eines abschlussstarken Stürmers wäre die WM für den Weltmeister wohl schon zu Ende. Mannschaftsinterne Diskrepanzen wurden nach dem MexikoSpiel direkt nach außen getragen, Mats Hummels’ öffentlicher Anstoß, er fühle sich mit Boateng in der Defensive oftmals allein gelassen, schlug hohe Wellen. Ein Kollektiv kann nicht funktionieren, wenn Einzelne das Gefühl haben, sie würden mehr für den Erfolg der Mannschaft unternehmen als andere. Insofern sollte der gemeinsame Jubel nach dem Schlusspfiff in Sotschi durchaus Signalwirkung haben, an die Mannschaft, an Deutschland. „Wie wir am Schluss zusammen gefeiert haben, das war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagte Kapitän Manuel Neuer, des- sen Gesundheitszustand im Vorfeld der Weltmeisterschaft genauso zur allgemeinen Irritation beitrug wie die von Ilkay Gündogan˘ und Mesut Özil durch ein Foto losgetretene Causa Erdogan.˘
Doch was bewirkt dieser Last-minuteSieg gegen Schweden nun? Kann Deutschland das Momentum für sich nutzen, ab jetzt „durchs Turnier reiten“, wie Timo Werner hofft? Wird der Weltmeister einmal mehr seinem Ruf gerecht, eine Turniermannschaft zu sein? Die spielerische Qualität, um zumindest das Achtelfinale zu erreichen, hat Deutschland allemal, all die augenscheinlichen Probleme der vergangenen Monate innerhalb der nächsten zweieinhalb Wochen abzuschütteln erscheint jedoch unrealistisch.
Jetzt ist alles möglich. Vom Worst Case bis zum Höchsten der Gefühle.