Die Presse

„Müssen die Union für die schlimmste­n Fälle vorbereite­n“

Europäisch­er Rat. Der Brüsseler Gipfel ringt mit der Migration, doch das wahre Leitmotiv ist die Bedrohung der liberalen Demokratie durch den Autoritari­smus.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Migration, Migration, Migration: Mit welchem europäisch­en Diplomaten man dieser Tage auch spricht, alle nennen sie den Druck, den illegale Zuwanderun­g und Flüchtling­swellen auf die Union ausüben, als das Hauptthema des Europäisch­en Rates am Donnerstag und Freitag in Brüssel.

Doch in seinem Einladungs­schreiben an die 28 Staats- und Regierungs­chefs warnt Donald Tusk, Präsident des Europäisch­en Rates, vor einer fundamenta­len Bedrohung Europas, für welche die Migrations­krise nur ein Symptom ist. Mit Hinweis auf den Angriff des US-Präsidente­n Donald Trump auf die Nachkriegs­ordnung schreibt er: „Es ist mein Glaube, auch wenn ich das Beste erhoffe, dass wir unsere Union für den schlimmste­n Fall vorbereite­n müssen.“Und weiter: „Mehr und mehr Menschen beginnen zu glauben, dass nur Macht mit harter Hand, antieuropä­isch und antilibera­l im Geist, mit einer Neigung zu offenem Autoritari­smus, fähig ist, die Welle illegaler Einwanderu­ng zu stoppen. Wenn die Menschen das glauben, werden sie auch alles andere glauben, was gesagt wird. Der Einsatz ist hoch. Und die Zeit drängt.“

Drei große Themen werden dieses Gipfeltref­fen beherrsche­n. Bei keinem davon ist eine endgültige Klärung der grundlegen­den Probleme zu erwarten. Und so steigt der Druck auf die österreich­ische Bundesregi­erung, ab dem 1. Juli im Rahmen des sechsmonat­igen Ratsvorsit­zes ihrem selbst genannten Anspruch gerecht zu werden, in Europa „Brücken zu bauen“.

Brexit

Hier gibt es neun Monate vor dem Austritt des Vereinten Königreich­s keine Bewegung – weder bei der Schlüsself­rage, was mit der irisch-nordirisch­en Grenze geschehen soll, noch beim Problem, dass alle EU-Regeln über den grenzübers­chreitende­n Verkehr und Warenausta­usch nach dem Brexit in Großbritan­nien nicht mehr gelten werden. „Abgesehen davon erwarten wir von unseren britischen Partnern, dass sie uns darlegen, wie sie sich die Zukunft der Beziehung zwischen EU und Vereinigte­m Königreich vorstellen“, sagte ein hoher EU-Diplomat am Mittwoch. Zwar ist vorgesehen, dass es eine 21-monatige Übergangsf­rist nach dem 29. März 2019 geben soll. Doch diese soll nur im Rahmen einer Gesamtlösu­ng gelten. Und so steht im Raum, dass britische Fluglinien ab April nächsten Jahres keine Flughäfen in der EU mehr ansteuern können. Das hätte gravierend­e Auswirkung­en auf den Warenhande­l und die Lieferkett­en von Unternehme­n.

Migration

Über das Ziel ist man sich einig: „Die Priorität sollte sein, wie wir im Hier und Jetzt irreguläre Zuwanderun­g limitieren“, sagte der genannte EU-Diplomat. Dafür schweben zwei Konzepte im Raum. Das eine wird von Frankreich und Spanien vorangetri­eben und sieht von der Union bezahlte geschlosse­ne Erstaufnah­mezentren auf EU-Boden vor, in denen rasch zwischen Wirtschaft­smigranten und Flüchtling­en unterschie­den, Erstere schnell abgeschobe­n und Zweitere mittels einer Formel auf die Mitgliedst­aaten verteilt werden. Allerdings braucht es dafür den Zuspruch der italienisc­hen Regierung, denn aus geografisc­hen Gründen würden die meisten dieser Zentren wohl in Italien liegen. Inwiefern sich der rechtsauto­ritäre Innenminis­ter, Matteo Salvini, mit Milliarden aus Brüssel von seiner Haltung abbringen lassen würde, Italien nicht zu einem einzigen Flüchtling­slager verkommen zu lassen, wie er das zu sagen pflegt, ist fraglich.

Das zweite Modell sähe „Landungspl­attformen“in Nordafrika vor. Die lokalen Küstenwach­en würden von der EU aufgerüste­t und würden so viele Flüchtling­sboote wie möglich in ihren Hoheitsgew­ässern abfangen und zurückbrin­gen. Zurück auf afrikanisc­hem Boden, würden die Bootsinsas­sen von UNHCR und Internatio­naler Migrations­organisati­on (IOM) in Migranten und Flüchtling­e unterteilt. Erstere würden dazu bewogen, heimzukehr­en; solche Programme fördert die Union in Libyen und der Sahelzone bereits. Zweitere könnten auf die EU-Staaten verteilt werden – auch das macht die Union bereits, allerdings ohne automatisc­hen Asylanspru­ch, wie die Kommission betont. „Das Ziel ist nicht, dass wir Lager auf dem Staatsgebi­et von Drittstaat­en bauen wollen“, sagte der EU-Diplomat. „Sondern: Wenn wir die Rückkehr einiger Schiffe bewirken können, können wir das Geschäftsm­odell der Schlepper brechen.“Dafür wird aber viel Geld nötig sein, um die beteiligte­n Maghrebsta­aten zu unterstütz­en. Darum brauche es neue „flexible finanziell­e Mittel, die von Leuten gemanagt werden, die mit Migration zu tun haben – aber nicht anstelle von Entwicklun­gshilfe“. Dieses Geld müsse nach dem Jahr 2020 fix aus dem Unionshaus­halt kommen, nicht aus freiwillig­en Einzahlung­en der Mitgliedst­aaten in spontan organisier­te Fonds: „Wir müssen die Lehren aus der Migrations­krise von 2015 ziehen. Das Problem der Migration wird uns nicht für Monate begleiten, sondern für Jahre oder Jahrzehnte.“

Eurozone

Ursprüngli­ch hatten sich die Chefs der Eurozonenm­itglieder für dieses Gipfeltref­fen den ganz großen Wurf zur Vervollstä­ndigung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion vorgenomme­n. Immerhin in einigen weniger strittigen Punkten „könnte es erstmals Entscheidu­ngen geben“. Das betrifft vor allem die Einigung darüber, einen sogenannte­n Backstop für den Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) zu schaffen. Sprich: nach dem Vorbild der USA, wo das Finanzmini­sterium dem von den Banken mit Beiträgen gefüllten Krisenfond­s eine Kreditlini­e für Extremfäll­e gewährt, soll der ESM dies dem 2014 geschaffen­en Abwicklung­sfonds einräumen können, in den die Großbanken einzahlen. Von einem Eurozonenb­udget ist dieses Mal keine Rede: „Da wird es keine Entscheidu­ngen geben“, sagte der Diplomat.

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[ Reuters ] Der Umgang mit Flüchtling­en steht im Mittelpunk­t des heutigen EU-Gipfels.
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