Eine längst verloren geglaubte Spezies
Groß gewachsene, kräftige Mittelstürmer galten als Auslaufmodell. In einer Neuinterpretation erlebt dieser Typus gerade eine Renaissance, Angreifer wie Romelu Lukaku könnten bei der WM gar der Schlüssel zum Erfolg sein.
Kaliningrad/Wien. Wer auf ein Preisschießen zwischen Romelu Lukaku und Harry Kane gehofft hat, wird heute wohl enttäuscht werden. Gut möglich, dass gleich zwei der drei bisher besten Torschützen dieser WM fehlen werden, wenn sich Belgien und England im letzten Gruppenspiel gegenüberstehen. Obwohl eine Schande gegenüber den Fans, ist es Alltag bei Endrunden, die Topstars zu schonen, wenn der Aufstieg wie auch in diesem Fall von beiden Teams längst fixiert worden ist.
Das ändert aber nichts daran, dass sowohl der 25-jährige Lukaku als auch der 24-jährige Kane ge- rade dabei sind, einen alten Stürmertypus nicht nur wiederzubeleben, sondern auch höchst erfolgreich weiterzuentwickeln. Denn der groß gewachsene, kräftige Mittelstürmer, gern auch Stoßstürmer genannt, galt längst als überholt. Und in der Kategorie des technisch limitierten Kopfballungeheuers, das dank seines Torriechers zwar abstauben konnte, aber sonst kaum am Spiel teilnahm – im besten Fall noch, um abtropfen zu lassen oder sich Verteidigern in den Weg zu stellen –, war er tatsächlich ein Auslaufmodell.
Ein robuster Angreifer allerdings, der seinen bulligen Körper im Sturmzentrum einzusetzen weiß und zugleich flink und wendig genug ist, um in die Räume vorzustoßen, dort auch einmal einen Gegenspieler stehen lassen oder selbst den letzten Pass spielen kann, ist gefragter denn je. Verfügt ein solcher Stürmer auch noch über einen schnellen Antritt und die nötige Balltechnik, könnte er bei dieser WM ein Schlüssel zum Titel sein. Schließlich verkörpert auch der „neue“Cristiano Ronaldo, der von Zinedine´ Zidane bei Real Madrid ins Sturmzentrum beordert wurde, genau diesen Typus.
In Russland hat Romelu Lukaku diese Rolle bisher am eindrucksvollsten ausgefüllt. Die stattliche Erscheinung des Belgiers (1,91 Meter, rund 95 Kilogramm) gepaart mit seiner Geschwindigkeit ergibt eine Kombination, die im Strafraum kaum aufzuhalten ist. Wie bei dieser WM schon zu sehen war, beherrscht der Manchester-United-Star auch die Ballkunst, um Tormänner mit einem Lupfer zu düpieren. Lukaku, ein Paradeexemplar des modernen Stoßstürmers also, kräftig, schnell und technisch versiert, außerdem mit Torinstinkt gesegnet: In den bisher 20 Partien unter Teamchef Roberto Mart´ınez traf er 23-mal für Belgien.
Sein Marktwert trägt diesen Zahlen Rechnung. Lukaku, in ärmlichen Verhältnissen in Antwerpen aufgewachsen, ist mittlerweile 90 Millionen Euro wert. Im Sommer des Vorjahres hat Jose´ Mourinho rund 85 Millionen für den Angreifer nach Everton überwiesen. Den Mann, den er einst bei Chelsea verschmäht hatte, hat er in Manchester zum Nachfolger von Zlatan Ibrahimovic´ erkoren.
Harry Kane (1,88 Meter, knapp 90 Kilogramm) hat sich genauso treffsicher erwiesen. In den jüngsten vier Saisonen hat er jeweils über 20 Tore für Tottenham erzielt. Als er Angang Juni einen neuen Sechsjahresvertrag bei seinem Stammklub unterschrieben hat, haben die Londoner, die sich sonst rühmen, bei den Rekordgagen der Premier League nicht mitzuspielen, ihr Credo über Bord geworfen und Kanes Wochengehalt von 100.000 Pfund (113.500 Euro) verdoppelt. Sein Marktwert kletterte auf 150 Millionen Euro.
Mit seinen drei Toren gegen Panama ist Kane nun der dritte Engländer nach Geoff Hurst und Gary Lineker, dem bei einer WM ein Hattrick gelang. „Das sollte ihn unglaublich stolz machen, aber er weiß, dass das Team das Wichtigste ist und wir Entscheidungen treffen müssen, die für die Mannschaft richtig sind“, erklärte Teamchef Gareth Southgate. Das klingt, als würde der Kapitän heute pausieren. Dabei wäre es umso spannender zu sehen, wie sich Kane gegen Toby Alderweireld und Jan Vertonghen (gelb vorbelastet), seine Tottenham-Kollegen in der belgischen Abwehr, schlägt.