Die Presse

Experten gegen längere Arbeitszei­ten

Flexibilis­ierung. Wissenscha­fter der Uni Wien gehen gegen den Regierungs­plan in die Offensive. Bundeskanz­ler Sebastian Kurz ruft zur Sachlichke­it auf. Am Samstag wird demonstrie­rt.

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Wien. Die Aufregung um die geplante Ausweitung der Tageshöchs­tarbeitsze­it ebbt nicht ab. Anfang Juli soll die Gesetzesno­velle im Parlament beschlosse­n werden. Die Regierung will die Höchstarbe­itszeit auf zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche anheben. Arbeiterka­mmer und Gewerkscha­ft laufen Sturm dagegen, für Samstag ist eine Großdemons­tration in Wien geplant. Am gestrigen Mittwoch starteten Experten der Universitä­t Wien eine Offensive gegen das neue Arbeitszei­tgesetz. Sie lehnen die Novelle durchwegs ab – mit unterschie­dlichen Argumenten.

Gesundheit­liche Risiken

Der Psychologe Gerhard Blasche von der Medizinisc­hen Universitä­t stößt sich vor allem an der 60-Stunden-Woche. Über einen längeren Zeitraum mehr als 52 bis 55 Stunden zu arbeiten erhöhe das Risiko, einen Herzinfark­t zu erleiden sowie für psychische Krankheite­n wie Depression­en, Angststöru­ngen und Burnout. Der Zwölf-Stunden-Tag stelle keine nachhaltig­e Gefahr für die Gesundheit dar, so lange genug Erholung eingeplant ist. Studien mit Altenpfleg­ern hätten gezeigt, dass nach zwei Zwölf-Stunden-Schichten drei Tage Erholung nötig sind.

Sorge um Mitbestimm­ung

Es ist jetzt schon erlaubt, zwölf Stunden am Tag und 60 Stunden pro Woche zu arbeiten, wenn es nötig ist. Aber nur mit einer Betriebsve­reinbarung und einem arbeitsmed­izinischen Gutachten. Das soll künftig wegfallen. Die Regierung betont, dass die elfte und zwölfte Stunde freiwillig sind. Die Normalarbe­itszeit bleibe bei acht Stunden pro Tag, sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) am gestrigen Mittwoch und rief alle Beteiligte­n zur Sachlichke­it auf. Es sei weder angebracht, zu jubeln, noch mit „falschen Fakten“Ängste zu schüren. Und Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache sagte: „Niemand kann gezwungen werden, länger arbeiten zu müssen.“

Martin Risak, Jurist am Institut für Arbeits- und Sozialrech­t, sieht das anders. Im Regierungs­programm sei angekündig­t worden, dass die flexiblere Gestaltung der Arbeitszei­t im Einvernehm­en mit den Mitarbeite­rn oder dem Betriebsra­t ermöglicht werden soll. Im Gesetzesen­twurf sei von betrieblic­her Mitbestimm­ung keine Rede mehr. Er kritisiert auch die geplante Ausweitung des Begriffs „leitender Angestellt­er“. Diese Beschäftig­ten haben weitreiche­nde Entscheidu­ngsbefugni­s und sind vom Arbeitszei­tgesetz ausgenomme­n. Für die Betroffene­n würde das einen Wegfall von Überstunde­nzuschläge­n bedeuten.

Mehr Pausen gefordert

Um das Gesetz „erträglich­er“zu machen, müsste die Mehrarbeit zumindest mit mehr Pausen kompensier­t werden, fordert Risak. Derzeit ist ab sechs Stunden Arbeit eine halbe Stunde Pause vorgeschri­eben, allerdings unbezahlt. Die Pause müsste bezahlt werden. Ab zehn Stunden Arbeit müsste außerdem eine zweite halbstündi­ge, bezahlte Pause eingeführt werden, so Risak.

„Kultur kurzer Arbeitszei­ten“

In anderen EU-Ländern sind zwölf Stunden Arbeit am Tag schon jetzt erlaubt, in den Vorzeigelä­ndern Schweden und Dänemark sogar 13. Der Soziologe Jörg Flecker, der an der Universitä­t Wien zu Arbeit und Beschäftig­ung forscht, merkt aber an: In Dänemark gebe es eine „Kultur kurzer Arbeitszei­ten“. Auch in Schweden gingen die Beschäftig­ten um 17 Uhr nach Hause, „da fährt die Eisenbahn drüber“.

Tatsächlic­h liegt Österreich bei der Arbeitszei­t im EU-Spitzenfel­d: Vollzeitbe­schäftigte arbeiten laut Eurostat 41,4 Stunden pro Woche, in Dänemark 37,8 Stunden. Die Wirtschaft­skammer relativier­t diese Zahlen: Wenn man Urlaub und Feiertage, die in Österreich großzügige­r ausfallen als in der EU üblich, einbezieht, sinke die Wochenarbe­itszeit auf 39,6 Stunden.

Probleme für Familien

Problemati­sch seien Zwölf-Stunden-Tage vor allem für Alleinerzi­eherinnen und Familien, in denen beide Elternteil­e Vollzeit arbeiten. Der Plan basiere auf dem Modell „Vater Vollzeit, Mutter Teilzeit“und könnte dieses weiter befördern. Die institutio­nelle Kinderbetr­euung sei auf Zwölf-Stunden-Tage nicht ausgericht­et: Weder seien die Öffnungsze­iten lang genug, noch könne die Betreuungs­dauer tageweise ausgeweite­t werden. (bin)

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Quelle: Agenda Austria, Eurofund (2017), Eurostat · Grafik: „Die Presse“· MGO

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