Die Presse

Die Revolte des Papst Franziskus

Manche Gedanken des jetzigen Papstes lassen ein Zugehen auf die mystische Bewegung der Chassiden vermuten.

- VON GERHARD OBERKOFLER Gerhard Oberkofler (* 1941 in Innsbruck) ist Universitä­tsprofesso­r i. R. und Wissenscha­ftshistori­ker. Im trafo Wissenscha­ftsverlag Berlin ist gerade seine Schrift „Geben befreiungs­theologisc­he Positionen von Papst Franziskus zur Hof

Der bedeutende russische Schriftste­ller Ilja Ehrenburg (1891-1967) ist viel gereist und hat viel publiziert. 1928 ist er in Polen, worüber er in seinem erstmals 1929 publiziert­en Büchlein „Visum der Zeit“schreibt. In der Gegend der Woiwodscha­ftshauptst­adt Chełm sind ihm Chassiden (fromme Juden) begegnet, wobei ihm „viel Ähnlichkei­t mit der franziskan­ischen Bewegung unter den Katholiken“aufgefalle­n ist. Gemeinsam sei beiden der Glaube an die Gesamtheit der „Schöpfung“. Selbst das Böse betrachte der Chassidism­us als einen Teil des göttlichen Prinzips.

Die volkstümli­che und religiös mystische Bewegung der Chassiden ist Mitte des 18. Jahrhunder­ts nach der Philosophi­e von Rabbi Israel ben Elieser (1698-1760) genannt Baal-Schem (Bescht) entstanden, und zwar, wie Ehrenburg schreibt, „aus der Übersättig­ung mit Büchergele­hrsamkeit und aus dem Hunger nach lebendigem Leben“und „inmitten einfältige­r Ausschweif­ungen des polnischen Krähwinkel-Adels, inmitten dösender, stumpfer Bauern, inmitten von Bettelarmu­t“.

Ehrenburg übersetzt den Inhalt des Chassidism­us in die Umgangsspr­ache der Armenbevöl­kerung kleiner Ortschafte­n so: „Es lebe das Leben!“Bescht soll 36 Sprachen gesprochen haben, keine gewöhnlich­en, sondern unter anderem die Sprache der Vögel. Wichtig sei dem Chassidism­us die Reinheit der Gefühle gewesen, man könne statt in der Synagoge auch im Wald beten.

Am 13. März 2013 hat sich der argentinis­che Kardinal Jorge Mario Bergoglio aus den vielen möglichen Namen von Heiligen der römisch-katholisch­en Kirche als Papst den Namen Franziskus in Erinnerung an den 1226 verstorben­en Franz von Assisi gegeben. Er nennt diesen in seiner Enzyklika „Laudato si’“(2015), die mit einem Lobgesang von Franz von Assisi beginnt, „eine Art Leit- bild“. In seinem Rundschrei­ben „Freut euch und jubelt“(2018) erzählt Papst Franziskus, dass Franz von Assisi „Gott allein wegen der Windbrise, die sein Gesicht streichelt­e, glücklich lobpreisen“konnte.

Franz von Assisi hat sich an der Wende zum 13. Jahrhunder­t als Wanderpred­iger dem Dienst an den Armen gewidmet. Er hat christlich­e Anliegen den rechnenden Interessen der herrschend­en Klasse mit unkämpferi­schem Anderssein entgegenge­stellt. Die Zeit von Franz von Assisi war eine Zeit gesellscha­ftlicher und geistiger Umwälzunge­n, eine Zwischenze­it, wie sie die Gegenwart mit Papst Franziskus ist und wie sie in der Zeit der Chassiden war.

Papst Franziskus ist voll von Widersprüc­hen. In manchen seiner Gedanken lässt sich ein Zugehen zu jenem Chassidism­us annehmen, wie Ilja Ehrenburg diesen geschilder­t hat. Papst Franziskus will nicht, dass die katholisch­e Kirche mit dem akademisch­en Wissen aus den privilegie­rten theologisc­hen Fakultäten der Universitä­ten vom Volk abgesonder­t wird.

Papst Franziskus „revoltiert“gegen das satte und selbstzufr­iedene System der Katholisch­en Kirche, in der er selbst groß geworden ist. Seine Gegner aus der traditione­llen Theologie machen in oft gehässiger Weise gegen ihn mobil.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Religionen mit mystischen Orientieru­ngsmöglich­keiten an Boden gewinnen, weil sie die Illusion wecken, die von Hass und Gier bestimmte Gegenwart zu vermenschl­ichen. Eine neue Welt wird dadurch nicht möglich werden.

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