Die Presse

Für Kritik an unserer Regierung ist hier gar kein Platz mehr

Nichts fürchtet der Mensch so sehr wie die reine Leere. Folglich war der fußballfre­ie 29. Juni 2018 ein wirklich schrecklic­her Tag. Aus purer Langeweile kann man auch einen Last-MinuteUrla­ub zum Ballermann buchen.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Der Freitag ist für die Lohnschrei­ber im Gegengift an sich schon eine Anomalie. Sie täuschen an diesem Tag kurz vor dem Weekend bereits um eins Müßiggang vor, weil sie wissen, dass dieser mühsam errungene Text die meisten Leute erst am Samstag erreicht. Diese wollen wahrschein­lich, weil sie ja zuvor täglich bis zu zwölf Stunden fürs Bruttosozi­alprodukt emsig tätig waren, nicht mit Erinnerung­en an solch herben Frondienst ins Wochenende gleiten.

Ein Feuilleton­ist sollte ohnehin behutsam mit den Gefühlen arbeiten- der Menschen umgehen, aber just an diesem 29. Juni fällt mir das besonders schwer. Bereits im Morgengrau­en hat mich fröhliches Kinderlach­en daran erinnert: Die Schule ist aus! Der Blick auf den Dienstplan zeigte mir: Die Stadttheat­ersaison ist ebenfalls zu Ende gegangen. Und dann hat auch noch die Fußball-WM in Russland einen Ruhetag eingelegt. Was tun?

Noch einmal die Aufzeichnu­ng des Spiels Belgien gegen England ansehen? Alte Programmhe­fte lesen? Einen Last-Minute-Urlaub zum Ballermann buchen? Mit den schulbefre­iten Kindern ein Eis essen gehen!

Bevor nun gefragt wird, was die Lehrer mit neun massiven Wochen unterricht­sloser Zeit anfangen (sie bereiten sich gewissenha­ft auf den Stundenpla­n des nächsten Semesters vor) oder die Theaterkri­tiker mit neun Wochen, in denen ihnen Burg- oder Volkstheat­er verschloss­en bleiben (sie suchen wunderbare Sommerthea­ter und sogar die feinsten Hochkultur­festspiele heim), möchte ich die Aufmerksam­keit der bereits ferial gestimmten Leserinnen und Leser auf ein philosophi­sches Paradox lenken.

Der befreite Geist fürchtet angeblich nichts so sehr wie den Horror vacui. Damit hat der griechisch­e Philosoph Aristotele­s in seinen Betrachtun­gen über Physik das Phänomen bezeichnet, dass der Mensch die Leere instinktiv verabscheu­t. Sofort setzt in dieser Situation der Wunsch ein, das Vakuum zu füllen. Maler bedecken Leerstelle­n dick mit Farben, Kolumniste­n schauen darauf, dass am Ende der Geschichte keine Freifläche bleibt, die Gedankenlo­sigkeit verrät, Führungskr­äfte ordnen spontan Sitzungen an, Politiker flüchten in beliebige Unteraussc­hüsse. Nur wenige – es sind nicht immer die Klügsten – haben den Mut zur Lücke. Die meisten suchen stattdesse­n Erfüllung.

Bevor ich nun, nachdem ich den Absatz beendet habe, in Urlaub gehen werde, sei zur sommerlich­en Beruhigung des Gewissens noch gesagt: Für denkende Menschen ist doch ersichtlic­h, „dass es weder abgesonder­t ein Leeres gibt, noch schlechthi­n eines“.

Nach dem Stillstand des Freitags beginnen an diesem Samstag die Achtelfina­le. Frau Merkel ist noch immer im Amt. Und für Kritik an unserer Regierung ist hier gar kein Platz mehr.

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