Zwischen Utopie und Verzicht
Die Seele des Schauspielers bleibe ihr rätselhaft, bekennt Marie Rötzer. Die gebürtige Niederösterreicherin, Intendantin des Landestheaters in St. Pölten, über ihre Rückkehr aus Deutschland, ihren Anspruch, ein authentisches Leben zu führen, und das letzt
Die Atmosphäre ist beinahe aufregend unaufgeregt, wenn man das Landestheater St. Pölten durch den Bühneneingang betritt. Unprätentiös der Empfang, ruhig und ohne erkennbare Stresssymptome die Intendantin in ihrem kleinen Büro. Keine Spur von Repräsentation, dafür ein Hauch von kreativem Chaos über voll beladenen Schreibtischen. Schwellenangst muss wohl niemand haben, der an Marie Rötzers Tür klopft. Ihre dritte Saison ist unter Dach und Fach. Seit Herbst 2016 amtiert sie in dem schmucken kleinen Haus am Hauptplatz, zurückgekehrt nach 20 aufregenden Jahren in Berlin und Zürich, Mainz und Hamburg, in denen sie von der Assistentin über die Dramaturgin zur Intendantin gereift ist. „Diese 20 Jahre haben mir am Anfang ein bisschen gefehlt, weil ich mein Netzwerk in Deutschland hatte. Insofern war es ein Neuanfang. Ich musste mir zum Teil meine Identität erst schaffen. Aber es war wichtig, aus Österreich wegzugehen. Und ich bin so herzlich aufgenommen worden! Die Wiener Szene ist natürlich sehr speziell, aber hier vor Ort bin ich ganz unkompliziert in Kontakt mit dem Publikum und den Kolleginnen und Kollegen gekommen. Die Mentalität und die Stimmung im Land haben sich inzwischen doch sehr verändert.“
Ob sie als „Heimkehrerin“auch einen „Heimvorteil“genießt, will Rötzer nicht beurteilen. „Ich habe mich ja nie als Niederösterreicherin definiert.“Sie empfinde es aber als „kleinen Vorteil“, dass sie jetzt in Niederösterreich darüber nachdenken kann, „warum die Menschen Theater brauchen und mit welchen Inhalten man es füllt“. Sie schöpft aus den Assoziationen, die sich in dieser „sehr melancholischen Landschaft in einem Grenzgebiet, mit ihrer Lebenskultur und ihren Gebräuchen“für ihre künstlerischen Pläne einstellen. „Theater macht man immer für die jeweilige Stadt“, sagt sie. Eine maßgeschneiderte Auswahl literarischer Stoffe und eine politische Haltung seien die Basis dafür. Und ein lebendiger Austausch der Theaterschaffenden untereinander sei das Gebot der Stunde. Nichts gegen „gesunde Konkurrenz“aber: „Es gibt in den Zeiten des Umbruchs, die wir derzeit auch innerhalb Europas erleben, nur die eine Möglichkeit: sich immer mehr zu öffnen. Auch die österreichischen Theater müssen sich mehr vernetzen. Ich träume von einem österreichischen Theatertreffen!“
Marie Rötzer ist in Mistelbach aufgewachsen, noch im Bewusstsein des Grenzstacheldrahts. In der Weinbauernfamilie, wo sie als Älteste von insgesamt fünf Kindern groß wurde, legte man Wert auf Bücher und Musikinstrumente, man sang im Kirchenchor. „Die Erziehung war sehr katholisch. Und es gab einen selbstverständlichen Umgang mit Kultur.“Zwar habe sie schon als Kind ihre Geschwister in selbst ausgedachten Geschichten „inszeniert“, ihr Berufswunsch sei zunächst allerdings Opernsängerin gewesen: „Aber ich habe selbst bemerkt, dass es für eine Karriere nicht reicht.“
Die Dramaturgie als Ziel
Also studierte sie Germanistik und Theaterwissenschaft. „Die Dramaturgie hat sich relativ bald als Ziel herauskristallisiert. Ich konnte mir gut vorstellen, eine Art Bergführerin durch die Struktur eines Textes zu sein.“Schauspiel oder Regie erschienen ihr dagegen „nicht realistisch. Als Schauspieler ist man sehr abhängig: vom Text, vom Kostüm, vom Regisseur. Man muss sein Herz für die Fantasie von anderen öffnen und sich selbst zur Verfügung stellen. Ich wusste intuitiv, dass ich mich da vor allem als Anfängerin in eine Art von Unfreiheit begebe. Und Regie bedeutet, Visionen zu entwerfen, damit aus einem Text dreidimensionale Bilder entstehen. Das hat mit vielen anderen Kunstdisziplinen zu tun, man braucht auch einen bildnerischen Blick.“
Es waren die 1980er-Jahre, Claus Peymann prägte das Wiener Theaterleben. Marie Rötzer hospitierte bei Emmy Werner am Volkstheater, bei Karin Bergmann in der Presseabteilung des Burgtheaters. „Meine Idole kamen plötzlich ganz real vorbei, ich durfte mit Gert Voss telefonieren. Da dachte ich: Das ist meine Welt.“Am Ende ihres Studiums nahm sie eine Stelle als Regieassistentin am Landestheater St. Pölten an, damals noch ein Mehrspartenhaus unter der Leitung von Peter Wolsdorff. „Das war eine wichtige Erfahrung, ich habe den Betrieb kennengelernt, habe gelernt, die Abläufe zu verstehen, wo die Knackpunkte einer Produktion sind, wann es kritisch wird.“
Nach Abschluss ihrer Diplomarbeit über das Theater in der Weimarer Republik und der mündlichen Prüfung über zeitgenössi- sches russisches Theater ging sie 1996 für ein Semester als Lektorin in die Ukraine. 1997 bekam sie ihre erste Stelle in der Dramaturgie des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. „Das war ein Traum, der sich erfüllt hat: in dieser zerrissenen Stadt zu arbeiten.“Intendant war Bernd Wilms aus Ulm, „ein Wessi am Ossi-Theater, das von der Schließung bedroht war und um seine Legitimation kämpfte“. Rötzer erinnert sich an große Namen: Harald Juhnke als Hauptmann von Köpenick, der junge Ben Becker als Biberkopf in „Berlin Alexanderplatz“– Erlebnisse, die sie fürs Leben prägten: „Leidenschaftlich, kompromisslos, besessen – diesen Anspruch will man immer wieder erfüllt sehen.“
Auch wenn es nachträglich so aussehen mag: In ihrer eigenen Laufbahn sei keineswegs immer alles glatt gegangen: „Man fängt naiv an. Ich wollte in einem Beruf arbeiten, wo man über die Welt und die Menschen anders nachdenken, wo man vielleicht sogar die Welt verändern kann.“Diesen Idealismus hat sie sich bewahrt. „Das Theater ist nach wie vor ein hierarchischer Ort. Die Rollen werden zugeteilt. Ich betrachte das sehr skeptisch. Natürlich muss es jemanden geben, der die Verantwortung übernimmt, sonst bricht Chaos aus. Aber meine Utopie ist, dass das Theater eine bessere Welt wird, mit so viel Freiheit wie möglich, mit einem Miteinander in einem kreativen Prozess. Mich interessiert der mündige Schauspieler.“
Mittlerweile gebe es zum Glück Schauspielschulen, an denen die Studierenden nicht „dressiert“, sondern so ausgebildet werden, dass sie mit ihren Erfahrungen und Gefühlen angstfrei umgehen können. „Schauspielerei hat viel mit Angst zu tun“, sagt Rötzer. Und: „Die Seele des Schauspielers bleibt für mich rätselhaft. Da gibt es vieles, was ich nicht verstehe. Aber in diesem Geheimnis liegt der Zauber der Schauspielkunst.“
Die nächste wichtige Begegnung war die mit Matthias Fontheim, der sie 2001 ans Schauspielhaus Graz verpflichtete. Mit ihm wechselte sie 2006 als Chefdramaturgin nach Mainz. „Fontheim hat mich sehr unterstützt und gefördert. Ich hatte in Mainz viel Entscheidungsfreiheit, habe das Schauspiel praktisch selbstständig geleitet, während er selbst inszeniert hat. Wir hatten eine tolle Nachwuchspflege, einen Spielplan mit dem Fokus auf Zeitgenossenschaft und ein sehr junges Ensemble.“Gern erinnert sich Rötzer auch an „das dynamische, offene Klima“in einer kulturell aufstrebenden Region und die „sehr schöne Mischung im Publikum“: „Wir haben über eine Flatrate insgesamt 40.000 Studenten ins Theater geholt: Für einen Euro mehr Studiengebühr konnten sie die Aufführungen gratis besuchen. Dadurch wurde ein unglaublich lebendiger Austausch möglich!“
Zuletzt war Rötzer am Thalia Theater tätig. Als persönliche Referentin von Intendant Joachim Lux war sie in sämtliche Leitungs- und Managementaufgaben wie Logistik, Budgets, Disposition und Gastspiele eingebunden. Da habe sie an sich eine Art Wachstumssprung wahrgenommen. „Man wächst ja an seinen Aufgaben, und in Hamburg dachte ich erstmals: Jetzt wäre ich soweit, einem Haus meinen Stempel aufzudrücken. So habe ich mich für St. Pölten beworben: weil ich das Theater kenne und weil ich die Erneuerung mitbekam und den guten Ruf, den es sich erarbeitet hat. Und ich habe mir ein Konzept ausgedacht, das offensichtlich gut angekommen ist.“
Sie ist hier bereits die dritte Frau in Leitungsfunktion, und ihre Berufung wurde von offizieller Seite auch damit begründet, dass man mit ihren Vorgängerinnen, Isabella Suppanz und Bettina Hering, „sehr gute Erfahrungen gemacht“habe. Was meint sie dazu? Es ärgert sie, „dass wir darüber noch reden müssen, dass eine Frau an der Spitze noch immer etwas Besonderes ist! Da geht es um eine politische Debatte, die man führen muss. Und die Quote ist in dieser Situation durchaus ein Instrument.“Für sie ist eine angenehme, offene Atmosphäre mit einer guten Diskussionskultur wichtig. „Und ich fühle mich hier 100-prozentig akzeptiert. Männern in vergleichbaren Positionen geht es häufig um Macht und Kontrolle, und sie genießen es, ihre Autorität auszuspielen. Aber das ist das letzte Aufbäumen der alten Patriarchen. Dieser Führungsstil hat ein biologisches Ablaufdatum. Ich sehe das idealistisch. Das Theater ist ein Ort der Utopie – auch in dieser Hinsicht.“
Weibliche Selbstbestimmtheit
Weibliche Selbstbestimmtheit hat in Rötzers Familie Tradition. Ihre Mutter hat nicht nur im Weinbau mitgearbeitet, sondern hatte ein eigenes Standbein als Schneiderin. „Ihr Credo war, dass eine Frau wirtschaftlich unabhängig sein muss.“Außerdem sei sie in einer „Frauenfamilie“aufgewachsen, mit Tanten, Großtanten und Großmüttern, die sehr wichtig für sie waren. „Meine Großmutter ist 96 Jahre alt geworden und hat sehr gern Geschichten erzählt. Sie hat zu Kriegszeiten, während der Abwesenheit der Männer, die Frauen in ihrem Weinviertler Dorf beschützt, als eine Art selbst ernannte Bürgermeisterin. Emanzipation und weibliche Solidarität wurden mir vorgelebt. Ich selbst habe in meiner Arbeit gute Erfahrungen mit Frauen gemacht und empfinde mich inzwischen selbst als Mentorin, die andere Frauen ermutigen kann, Verantwortung zu übernehmen.“
Dass sie neben ihrem anspruchsvollen Beruf eine Familie haben könnte, hat Rötzer, wie viele Frauen ihrer Altersgruppe, von vornherein nicht in Betracht gezogen. „Kinder waren für mich nie ein Thema. In meiner Generation hieß es: entweder – oder. Wer im Theater nicht Tag und Nacht zur Verfügung stand, dem wurde schnell zu wenig Einsatz unterstellt.“Zum Glück finde hier wie in vielen anderen Bereichen ein Umdenken statt. „Auch für Theatermenschen ist ein Leben außerhalb essenziell“, sagt sie; schließlich beziehe man daraus auch wieder Inspiration für die künstlerische Arbeit. „Aber bei mir verschwimmen die Grenzen zwischen beruflich und privat sehr oft.“
Marie Rötzer hat ihre Wohnung in Wien. Sie ist im Theater aber auch abends sehr präsent. „Ich schaue mir viele Vorstellungen an. Mein Leben ist sehr kompliziert. Man hat keinen normalen Rhythmus, und das hat durchaus auch mit Verzicht zu tun. Aber ich habe gemerkt, dass mir das Unstete sehr gut entspricht.“Ihr Partner, ein bildender Künstler aus Berlin, begleitet sie seit mehr als zehn Jahren. „Er ist eine große Hilfe. Da ist sehr viel gelungen“, sagt sie. „Er kritisiert mich auch sehr – und ich kritisiere ihn. Aber man kämpft schließlich für einen künstlerischen Anspruch. Und man hat doch nicht zuletzt die Aufgabe, dass das eigene Leben authentisch ist. Ich sehe mich auf meinem Weg, und das ist ein stimmiger Weg.“