Wie machen sie das nur?
Island. Drei, vier Beschäftigungen nachzugehen ist ganz normal für Isländer. Vielleicht liegt das auch an ihrem ganz anderen Nachtleben.
Gisli sieht aus wie ein Bär. Auf dem T-Shirt, das seinen umfangreichen Bauch umspannt, steht „Kaldi“: Er ist Sohn eines Fischers. Man könnte meinen, Gisli ließe in seiner Leibesfülle das Volumen seines Geschichtenreichtums erkennen, vor dem er munter sprudelnd überquillt. Während der verbleibenden siebzehn Minuten, bevor die Fähre nach Hr´ısey ablegt, düst er die Küstenstraße in Richtung Norden. Er gibt, begleitet von Bariton-Lachen, die traurige Geschichte des blinden und verbannten Königs von Norwegen zum Besten, dem zur Ehre sogar eine kleine Kirche links der Straße errichtet wurde. „So sieht’s aus, jawohl – Island hatte mit ihm einen König!“
Ein Blitzbesuch der Hallen der Kaldi-Brauerei in Bruggsmiðjan passt noch schnell, bevor das Schiffchen ablegt. Gisli geht auf der Insel Hr´ısey ein und aus, als handle es sich um die heimische Wohnküche. Er nimmt die Speisung im Heimatmuseum des Inselchens mit, da der Stockfisch dort unvergleichlich ist. Danach spaziert er durch die Baustelle von Simmi, Wirt der besten Bar Akureyris. Mit einer Selbstverständlichkeit öffnet die Türen zu scheinbar fremden Häusern, ganz wie daheim. Eigentlich jedoch ist er Opernsänger. Stand auf den Bret- tern der Met und zieht die Akustik baltischer Kirchen einem Auftritt in der Mailänder Scala vor.
Eyrun bäckt Brot in der „Earthbakery“, ein ganz spezielles isländisches Vergnügen. Im wahren Leben ist sie Grafikdesignerin. Aber nur im Winter. Manchmal auch Innenarchitektin. Ein Metier, für das Island bisher unbekannt ist. Islands Designer wagen nämlich, sich mit spielerischem Understatement vom nordischem Ikea-Mainstream deutlich abzuheben. Gäste der Icelandair-Hotels können sich ein Bild davon machen.
Im Sommer organisiert und begleitet Eyrun Touren ihrer eigenen Agentur. Egal ob per Rad, zu Fuß oder im Flugzeug – um den Myvatn und zu den Vulkanbergen. Sie kennt jeden Lavatunnel am Myvatn, dem Mückensee, einst gefüllt durch des Teufels Urin. Sie respektiert die Launen des Vulkans Barðarbunga´ und weiß um die Historie dessen Kollegen.
Arndis Soffia Sigurdardottir führt in der Mitte von Sma´ratu´n ein Hotel der besonderen Art. Es liegt im sogenannten Ortskern der auf einem Gebiet von 20 mal 20 Kilometern sich lose verteilenden circa zehn Weilern. Unscheinbar sind die kleinen Holzhäuschen des Hotels in die Landschaft gestreut. Das Hauptgebäude versprüht den Charme eines billigen Modulbaus, ganz im Gegensatz zu dem, was die Herberge inhaltlich als Programm bietet. Arndis’ junges Leben füllt schon Seiten sonst später geschriebener Lebenswerke, da sie als Anwältin einen der spektakulärsten isländischen Kriminalfälle aufdeckte. Derzeit freut sich die Umweltaktivistin über die Gäste, die sie und ihre Pferdeausflüge zu schätzen wissen.
In einem Land wie Island, in dem ab 2010 Jon´ Gnarr, ursprünglich Komödiant und Mitglied einer Spaßpartei, vier Jahre lang der beste Hauptstadt-Bürgermeister aller Zeiten war, würde sich Karl Marx noch post mortem verwirklicht sehen. Was ein Großteil der Menschen in Island realisiert, ist in etwa das, was der Philosoph und Ökonom mit einem seiner be- rühmten Sätze formulierte. Er skizzierte eine Gesellschaft, in der „jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, [. . .] heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“
Diese Isländer. Wann schaffen sie das alles? Und überhaupt, wenn man so viel anpackt, kann da etwas Anständiges dabei herauskommen? Die einfachste Antwort zunächst: Die Isländer tun einfach! Und fragt man einen so selbstbestimmten Isländer, wie das funktionieren kann, heißt es mit einem verschmitzten Stolz: „Wir sind ein junges Land! Unsere Eltern bauten auf: Häuser, Firmen, Interesse für Kunst und Kultur, wir können daraus so viel machen“, meint Arni, und das tut er auch. Seine Berufung reicht von Kuhbauer – in Ar- nis Wohnzimmer hängt ein überlebensgroßes Porträt von Arnis Lieblingskuh, eine lachende Kuh, lebensfroh wie der Bauer selbst – über Hörgeräteakustiker bis zu Barbesitzer. Zudem ist er Vater von drei Kindern und aktuell Mikrobrauer von Gaedingur, was so viel heißt wie starkes Pferd.
Zurzeit laboriert er zusammen mit Toti´ und Gudny, der Fachfrau für Marktlücken, an einem Birkenbier. Sein erlesener Sortenschatz, der von India Pale Ale weit über English Stout und Malt Beer reicht, („ein schönes Bier, ganz wie der Brauer selbst“, sagt Arni), wird durch die Birkenkreation erneut bereichert. In seiner feinen und überschaubaren Brauerei mitten auf dem Hof hat jedes Bier seine ganz eigene Entwicklungsgeschichte. Von Arni beseelt dargeboten, gestaltet sich die Bierprobe besonders witzig.
Die Microbar in Reykjav´ık ist eine weitere Wirkungsstätte Arnis, vielleicht sein Wohnzimmer in der Inselhauptstadt. An etlichen Tagen steht der Wirt dort selbst hinter dem Tresen und bietet zum Bier eine unerschöpfliche Bandbreite an hintergründigen Gesprächen in Kombination mit allen Nuancen isländischen Humors.
Humor im Gepäck ist in Island mindestens so angesagt wie die Regenjacke. Es ist möglich,