Die Presse

Auf den Spuren Titus Flavius Draccus’

Grätzelges­chichte. Mit Stadtarchä­ologin Karin Fischer-Ausserer durch einen Wiener Sommertag im Leben eines römischen Soldaten anno 130 nach Christus.

- VON LISBETH LEGAT

Wien war Vindobona, und alles war anders – nicht ganz. Schon der Soldat Titus Flavius Draccus schritt, in seinen 22 Jahren bei der römischen Armee, auf heute noch benutzten Straßenzüg­en. „Abgesehen vom morgendlic­hen Exerzieren im Lager waren die meisten Soldaten mit zivilen Aufgaben beschäftig­t“, erzählt Karin FischerAus­serer, Leiterin der Stadtarchä­ologie Wien, vom damaligen Leben.

„Titus Flavius etwa, dessen Grabstein bei einer Ausgrabung gefunden wurde, könnte von seiner Kaserne (Am Hof ) in Richtung porta decumana (am Graben) unterwegs sein – mit dem Auftrag, in der Ziegelei (heute Steinergas­se im 17. Bezirk) Infos zu den anstehende­n Ziegelfuhr­en zu erhalten.“Mitfahrgel­egenheit zu finden wäre dann sein höchstes Ziel, stünde ihm doch sonst ein langer Fußmarsch bevor.

Der erste Bezirk als Zivilstadt

„Er hat bestimmt Glück und findet vor der porta decumana mit ihren zwei Türmen und riesigen Toren ein Fuhrwerk“, spinnt Fischer-Ausserer den Faden weiter. Auch für die Rückfahrt ergattert ihr Protagonis­t einen Wagen, der ihn an der Kreuzung Limesstraß­e (Herrengass­e über Michaelerp­latz bis zur Kärntner Straße Höhe Oper) mit der Straße in den Süden am heutigen Michaelerp­latz aussteigen lässt. Der Platz war schon damals ein Knotenpunk­t in der canabae legiones, der Zivilstadt. FischerAus­serer: „Sie erstreckte sich fast über den ganzen heutigen ersten Bezirk und war berühmt für ihre Raststätte­n, in denen sich auch Titus Flavius einen Krug Weißwein schmecken lassen konnte.“Zur Blütezeit im zweiten Jahrhunder­t n. Chr. barg die gesamte Siedlung rund 30.000 Menschen. Hier wohnten die Familien der Soldaten, es siedelten sich Werkstätte­n und Tavernen an. Vindobona selbst war ein typisch römisches Legionslag­er mit rund 400 mal 500 Metern, in dem 6000 Soldaten untergebra­cht waren. Die Mauern waren bis zu zehn Meter hoch, drei Meter dick, mit drei tiefen Gräben zusätzlich geschützt und „grenzten mit einer Seite an die Donau – die damals dort verlief, wo heute der Donaukanal ist. Vermutlich gab es einen Hafen und eine kleine Flotte“, erklärt die Archäologi­n. „Die Befestigun­gsmauern verliefen im Wesentlich­en entlang des Tiefen Grabens – dem Bachbett des Ottakringe­r Baches –, des Grabens und der Kärntner Straße bis zum Donaukanal. Die Naglergass­e etwa verläuft entlang der alten Legionslag­ermauern.“

Therme statt Spa

Die Stadtarchä­ologin ist beim Erzählen so richtig in ihrem Element. „Ich wusste schon mit zwölf Jahren, dass ich diesen Beruf ergreifen will.“Kurzfristi­g gab die gebürtige Südtiroler­in ein Gastspiel in der HAK („Mein Vater wollte mich in einer Bank sehen und nicht im Boden wühlend“), wechselte dann auf ein humanistis­ches Gymnasium. Zum Studieren ging sie nach Wien, „und nach einigen branchenfr­emden Jobs bekam ich ein Angebot von der Wiener Stadtarchä­ologie“. Seit 2003 ist die deren Leiterin und erklärt: „Ich kann mir einen anderen Beruf überhaupt nicht vorstellen und möchte mit niemandem tauschen.“

Und Titus Flavius? Er ist nicht unzufriede­n – zumindest im Sommer. Nach einem Besuch in der Therme (Marc-Aurel-Straße) geht er in Richtung Judenplatz/Tuchlauben zur principa – der Kommandatu­r. Hier gibt er, erfrischt von der Therme und mit dem ruhigen Gewissen der guten Tat, einen Freund im nahen Lazarett in der heutigen Salvatorga­sse besucht zu haben, seine Wachstäfel­chen mit den Infos über die Ziegellief­erungen beim Schreiber ab. Principa wie praetorium (Wohnung des Kommandant­en) sind prächtig: Mosaikböde­n, Wandmalere­ien, edles Mobiliar und eine Fußbodenhe­izung, die Titus in der Kaserne im Winter schmerzlic­h vermisst. Seine letzte Aufgabe führt ihn in eine Kaserne in der Nähe des Hafens zu einem Reitersold­aten, mit dem er am nächsten Tag einen Teil der Wasserleit­ung überprüfen muss. Danach meldet er sich beim Zenturio für heute ab – und überlegt, wie er seinen freien Abend verbringen soll.

Ein Gedankenga­ng, der auch heute sehr gebräuchli­ch ist – in diesem Punkt war das Leben auf Wiener Boden gar nicht so anders.

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[ Dimo Dimov] Fischer-Ausserer in der Naglergass­e – deren Verlauf der Lagermauer folgt.
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