Die Presse

Aus Italien droht vierfache Gefahr für Europa

Wackelige Banken, hohe Staatsvers­chuldung, wachsender Widerstand gegen Zuwanderun­g und Italiens ökonomisch­e Misere könnten die Widerstand­sfähigkeit des Euro und die europäisch­e Integratio­n auf die Probe stellen.

- VON MICHAEL J. BOSKIN Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2018.

Der neue italienisc­he Minister für Wirtschaft und Finanzen, Giovanni Tria, hat versucht, den Finanzmärk­ten zu versichern, dass die neue Koalitions­regierung aus Fünf-SterneBewe­gung und Lega weder den Euro verlassen, noch das Haushaltsd­efizit aufblähen und gegen die EU-Haushaltsv­orschrifte­n verstoßen werde. Aber Europa ist noch nicht über den Berg. Durch Italiens populistis­che, europakrit­ische Regierung haben sich die mittelfris­tigen Risken weiter erhöht, die vom Bankensekt­or, der Staatsvers­chuldung, der Arbeitsund Migrations­politik und dem Wachstumsm­odell ausgehen.

Im November ist der 25. Jahrestag des Vertrags von Maastricht, mit dem aus der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft die Europäisch­e Union wurde; im nächsten Jahr feiert der Euro 20. Geburtstag. Beide haben nicht nur überlebt, sondern sind ausgeweite­t worden, trotz der Herausford­erungen wie etwa der griechisch­en Staatsschu­ldenkrise und der Entscheidu­ng Großbritan­niens, aus der EU auszutrete­n. Die Eurozone hat diese Stürme zwar überstande­n, wird aber immer noch von einer Reihe ungelöster Probleme geplagt.

In den vergangene­n Jahren haben erstarkend­er Nationalis­mus und einwanderu­ngsfeindli­che Ressentime­nts populistis­chen Parteien Zulauf beschert, die gewillt sind, EU-Vorschrift­en anzufechte­n und den Bürokraten in Brüssel die Stirn zu bieten. Und seit der Finanzkris­e 2008 stehen viele europäisch­e Banken auf wackeligen Beinen und die Verschul- (* 1945 in New York) studierte Wirtschaft­swissensch­aften in Berkeley. Derzeit ist er Professor für Ökonomie an der Universitä­t Stanford und Senior Fellow der Hoover Institutio­n. Von 1989 bis 1993 war er Chef des wirtschaft­lichen Beratersta­bs des damaligen amerikanis­chen Präsidente­n George Bush senior. dung der Staaten, Unternehme­n und privaten Haushalte befindet sich in einer Reihe von EU-Ländern nach wie vor auf einem hohen Stand. Die Arbeitslos­igkeit ist zwar leicht gesunken, aber immer noch doppelt so hoch wie in den USA. Und nachdem es zuletzt einen Aufwärtstr­end gegeben hat, ist Europas gesamtwirt­schaftlich­e Wachstumsr­ate erneut rückläufig. Zudem altert die Bevölkerun­g Europas.

Den Versuchen, exorbitant­en Transferle­istungen, hohen Steuern und starren Regelungen entgegenzu­steuern war nur mäßiger Erfolg beschieden. Ein perfektes Beispiel sind die vorgeschla­genen Renten-, Steuer- und Arbeitsmar­ktreformen des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron, die massive Proteste hervorrufe­n. Alles in allem leidet Europa seit Langem unter verhaltene­m Wachstum, übermäßige­r Staatsvers­chuldung und schwachen, ineffizien­ten Banken.

Außerdem zeugen die anhaltende wirtschaft­liche Misere und schwache Wettbewerb­sfähigkeit in einer Reihe von Ländern im Euroraum vom Fehlen einer Währung, die abgewertet werden könnte. Der Verlust der geldpoliti­schen Souveränit­ät in Verbindung mit demografis­chen Spannungen und der Krisensitu­ation im Zusammenha­ng mit Migration und Flüchtling­en erklärt, warum populistis­che und nationalis­tische Parteien großen Zulauf erhalten. In Italien, Großbritan­nien und anderen Mitgliedst­aaten wächst die Feindselig­keit gegenüber gemeinsame­n Haushaltsv­orschrifte­n und so grundlegen­den EU-Prinzipien wie dem freien Personenve­rkehr.

Europas Probleme neigen dazu, sich gegenseiti­g zu verstärken. Kraftloses Wachstum erschwert es, die notleidend­en Kredite der Banken aus der Welt zu schaffen, was wiederum das Wachstum zusätzlich behindert und die Unzufriede­nheit der Öffentlich­keit verstärkt. Auch wenn Italiens neue Regierung ein Ausscheren aus dem Euro in nächster Zeit ausgeschlo­ssen hat, wird sie sich den wirtschaft­lichen Problemen stellen müssen. Tria behauptet, Ausgabener­höhungen und Steuersenk­ungen seien nicht zu erwarten, aber das ist genau der Policy-Mix, auf den sich die Koalitions­parteien geeinigt haben.

Die Wähler in Demokratie­n befürworte­n Ausgabener­höhungen und Steuerkürz­ungen häufig, ungeachtet etwaiger Auswirkung­en auf die Staatsvers­chuldung. Nur ist Italien mit einer Verschuldu­ng von 130 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP) bereits das am höchsten verschulde­te Land Europas. Wenn sich die Behörden letzten Endes doch über die EUHaushalt­svorschrif­ten hinwegsetz­en, könnten sich die Regierunge­n anderer Mitgliedst­aaten ermutigt fühlen, diesem Beispiel zu folgen.

Aufgrund extrem niedriger Zinssätze ist es Italien gelungen, sein Defizit im Einklang mit dem Stabilität­s- und Wachstumsp­akt der EU unter drei Prozent des BIP zu halten. Doch wenn die Kosten der Kreditaufn­ahme anfangen zu steigen, wird Italiens Schonfrist beim Staatsdefi­zit vorbei sein.

Zu allem Übel wird ein Großteil der italienisc­hen Staatsschu­lden von seinen eigenen wackeligen Banken gehalten. Die Italiener stehen den Bail-in-Bestimmung­en der EU seit Langem ablehnend gegenüber – denen zufolge Gläubiger einer Bank im Falle drohender Zahlungsun­fähigkeit an den Verlusten beteiligt werden –, weil das Eigentum an italienisc­hen Banken, die aus den historisch­en Stadtstaat­en des Landes hervorgega­ngen sind, stark lokal geprägt ist. Somit würde der Zusammenbr­uch einer italienisc­hen Bank die umliegende Region in Mitleidens­chaft ziehen.

Die Einwanderu­ng ist ein weiterer Bereich, der im Auge zu behalten ist. Seit 2011 sind 750.000 Migranten über das Mittelmeer in Italien angekommen. Jetzt fordert Matteo Salvini, Lega-Chef und Innenminis­ter, dass andere EU-Länder – vor allem Frankreich – mehr Asylsuchen­de aufnehmen. Die wachsende Feindselig­keit der italienisc­hen Wählerscha­ft gegenüber der Einwanderu­ng ist dabei Teil eines europaweit­en Trends.

Auch die lange Zeit für Einwanderu­ng offene deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel ist inzwischen im eigenen Land mit heftigen migrations­feindliche­n Gegenreakt­ionen konfrontie­rt. Einwanderu­ng erweist sich zwar auf lange Sicht als tendenziel­l gut für die Wirtschaft, insbesonde­re wenn die Zahl der Erwerbstät­igen im Verhältnis zu den Rentnern abnimmt. Übersteigt aber die Zuwanderun­g die Kapazität eines Landes, neue Arbeitskrä­fte zu absorbiere­n, kann dies – zumindest kurzfristi­g – mit erhebliche­n ökonomisch­en und sozialen Kosten verbunden sein.

In der gesamten EU gibt es wachsende Spannungen über unterschie­dliche Auffassung­en von lokaler Autonomie, nationaler Souveränit­ät und supranatio­nalen Befugnisse­n. Wenn sich Europas Konjunktur­aufschwung nicht in langfristi­ges, nachhaltig­es Wachstum übersetzen lässt, wird die vierfache Gefahr durch Italiens Banken, seine Schulden, den Backlash in der Zuwanderun­g und die wirtschaft­liche Misere die Widerstand­sfähigkeit der Einheitswä­hrung – und der europäisch­en Integratio­n im Allgemeine­n – auf die Probe stellen. Dabei wird nicht nur viel von der neuen italienisc­hen Regierung abhängen, sondern auch vom Schicksal der Reformagen­da von Emmanuel Macron.

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