„Verzockt, verrannt, überschätzt“
Reaktionen. Die SPD schlägt sich im Koalitionsstreit auf die Seite Angela Merkels. Horst Seehofers Migrationsplan birgt weiteren Konfliktstoff. Vom Koalitionschaos profitieren derzeit vor allem die AfD und die Grünen.
Wien/Berlin. Der Vizekanzler war in der AnneWill-Talkshow am Sonntagabend um Contenance bemüht: hanseatisch vornehm, nüchtern, emotionslos – so kommentierte Finanzminister Olaf Scholz (SPD) die Selbstzerfleischung des Koalitionspartners als „selbstvergessen“und „binnenfixiert“. Würden alle so rational argumentieren wie er, würde sich die Regierung viel Aufregung ersparen, lautete unter der Heiterkeit der TV-Runde sein Tenor zur Koalitionskrise. Im Übrigen, merkte er an, verbinde ihn ein hervorragendes Verhältnis zu CSU-Chef Horst Seehofer.
Ratlosigkeit, Befremden, Fassungslosigkeit bis hin zu einer Schockstarre dominierten lang die Reaktionen des Juniorpartners SPD und der Opposition zum innerparteilichen Machtkampf in der Union. Dabei müsste dies doch ihre Chance sein, Kapital aus dem Konflikt der Schwesterparteien zu schlagen und die angeschlagene Allianz lustvoll vor sich herzutreiben. Vielleicht wa- ren die Sozialdemokraten auch zu sehr mit sich und ihrer Dauerkrise beschäftigt und obendrein als Bündnispartner gefesselt.
Am Montag nach dem CSU-Sitzungsmarathon in München war es in der SPD jedenfalls vorerst vorbei mit der Koalitionsräson. Es war just Sigmar Gabriel, der Ex-Parteichef und frühere Außenminister, der frei von Koalitionsdisziplin polterte. Er forderte Innenminister Seehofer zum Rücktritt auf. Niemand dürfe ungestraft die Kanzlerin erpressen und mit dem Schicksal Deutschlands spielen. Seehofer und seine CSU hätten sich „verzockt, verrannt und überschätzt“.
Wahlkampfvorbereitungen
Auch SPD-Chefin Andrea Nahles gab ihren ungewohnten Langmut auf. „Die CSU ist auf einem gefährlichen Ego-Trip.“Sie rief noch für den gestrigen Montag zu einer Sitzung des Koalitionsausschusses, des zweiten innerhalb einer Woche. Es zeigt, wie prekär die Lage in Berlin ist. Im Willy-Brandt-Haus bereiten sich die Strategen schon für alle Eventualitäten vor: für Neuwahlen und einen Wahlkampf im Spätsommer.
Als Antwort auf Seehofers „Masterplan Migration“, der in Punkten wie bei Abschiebehaftplätzen oder der Einschränkung für Rechtsmittel für Asylwerber auf Widerspruch der SPD stoßen dürfte, hat Nahles einen eigenen Fünf-Punkte-Plan zur Migration parat. Ungeachtet der aktuellen Krise könnten die Differenzen in der Flüchtlingspolitik zu einem vorzeitigen Ende der Koalition führen.
Laut Umfragen könnten derzeit die AfD und die Grünen von Neuwahlen profitieren. AfD-Chef Alexander Gauland unkte beim Parteitag jüngst in Augsburg, die Turbulenzen in der Union erinnerten ihn an die letzen Tage der DDR – und er verstieg sich zum Vergleich Angela Merkels mit Erich Honecker. Bei den Grünen überlegt nicht nur Parteichef Robert Habeck einen fliegenden Wechsel in die Regierung. Das Modell einer JamaikaKoalition zwischen CDU, FDP und Grünen, das FDP-Chef Lindner im Herbst platzen ließ, könnte bald wieder in Mode kommen.