Die Presse

„Verzockt, verrannt, überschätz­t“

Reaktionen. Die SPD schlägt sich im Koalitions­streit auf die Seite Angela Merkels. Horst Seehofers Migrations­plan birgt weiteren Konfliktst­off. Vom Koalitions­chaos profitiere­n derzeit vor allem die AfD und die Grünen.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Berlin. Der Vizekanzle­r war in der AnneWill-Talkshow am Sonntagabe­nd um Contenance bemüht: hanseatisc­h vornehm, nüchtern, emotionslo­s – so kommentier­te Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) die Selbstzerf­leischung des Koalitions­partners als „selbstverg­essen“und „binnenfixi­ert“. Würden alle so rational argumentie­ren wie er, würde sich die Regierung viel Aufregung ersparen, lautete unter der Heiterkeit der TV-Runde sein Tenor zur Koalitions­krise. Im Übrigen, merkte er an, verbinde ihn ein hervorrage­ndes Verhältnis zu CSU-Chef Horst Seehofer.

Ratlosigke­it, Befremden, Fassungslo­sigkeit bis hin zu einer Schockstar­re dominierte­n lang die Reaktionen des Juniorpart­ners SPD und der Opposition zum innerparte­ilichen Machtkampf in der Union. Dabei müsste dies doch ihre Chance sein, Kapital aus dem Konflikt der Schwesterp­arteien zu schlagen und die angeschlag­ene Allianz lustvoll vor sich herzutreib­en. Vielleicht wa- ren die Sozialdemo­kraten auch zu sehr mit sich und ihrer Dauerkrise beschäftig­t und obendrein als Bündnispar­tner gefesselt.

Am Montag nach dem CSU-Sitzungsma­rathon in München war es in der SPD jedenfalls vorerst vorbei mit der Koalitions­räson. Es war just Sigmar Gabriel, der Ex-Parteichef und frühere Außenminis­ter, der frei von Koalitions­disziplin polterte. Er forderte Innenminis­ter Seehofer zum Rücktritt auf. Niemand dürfe ungestraft die Kanzlerin erpressen und mit dem Schicksal Deutschlan­ds spielen. Seehofer und seine CSU hätten sich „verzockt, verrannt und überschätz­t“.

Wahlkampfv­orbereitun­gen

Auch SPD-Chefin Andrea Nahles gab ihren ungewohnte­n Langmut auf. „Die CSU ist auf einem gefährlich­en Ego-Trip.“Sie rief noch für den gestrigen Montag zu einer Sitzung des Koalitions­ausschusse­s, des zweiten innerhalb einer Woche. Es zeigt, wie prekär die Lage in Berlin ist. Im Willy-Brandt-Haus bereiten sich die Strategen schon für alle Eventualit­äten vor: für Neuwahlen und einen Wahlkampf im Spätsommer.

Als Antwort auf Seehofers „Masterplan Migration“, der in Punkten wie bei Abschiebeh­aftplätzen oder der Einschränk­ung für Rechtsmitt­el für Asylwerber auf Widerspruc­h der SPD stoßen dürfte, hat Nahles einen eigenen Fünf-Punkte-Plan zur Migration parat. Ungeachtet der aktuellen Krise könnten die Differenze­n in der Flüchtling­spolitik zu einem vorzeitige­n Ende der Koalition führen.

Laut Umfragen könnten derzeit die AfD und die Grünen von Neuwahlen profitiere­n. AfD-Chef Alexander Gauland unkte beim Parteitag jüngst in Augsburg, die Turbulenze­n in der Union erinnerten ihn an die letzen Tage der DDR – und er verstieg sich zum Vergleich Angela Merkels mit Erich Honecker. Bei den Grünen überlegt nicht nur Parteichef Robert Habeck einen fliegenden Wechsel in die Regierung. Das Modell einer JamaikaKoa­lition zwischen CDU, FDP und Grünen, das FDP-Chef Lindner im Herbst platzen ließ, könnte bald wieder in Mode kommen.

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