Wortführer der englischen Revolution
Englands Nationalmannschaft befindet sich nicht nur im Umbruch, Spieler wie Jesse Lingard verpassen dem Mutterland des Fußballs gerade eine völlig neue Identität.
Moskau/Wien. Das alte England hat seit 2006 und einem 1:0 gegen Ecuador bei Welt- oder Europameisterschaften kein K.-o.-Spiel mehr gewonnen. Der Tiefpunkt: Das Achtelfinal-Aus bei der EM 2016 gegen Island. Das neue England allerdings ist bei der WM in Russland eine von wenigen großen Fußballnationen, die nicht nur noch dabei sind, sondern bisher auch zu überzeugen wussten. Und für die mit Blick auf den Turnierast auch das Halbfinale absolut in Griffweite liegt.
Diese englische Truppe, die jüngste der K.-o.-Phase dieser WM, hat wenig gemein mit den Three Lions von John Terry, Frank Lampard und Steven Gerrard. Klubri- valitäten spielen keine Rolle mehr, die Chelsea- und ManchesterUnited-Stars speisen nicht mehr an getrennten Tischen, auf dem Platz hat „Kick and Rush“endgültig ausgedient, und der neue Einsergoalie, Jordan Pickford, hat sich auch noch keinen Patzer erlaubt.
Ein Mann verkörpert die neue englische DNA wie kein anderer: Jesse Lingard, 25-jähriger Angreifer von Manchester United. Mit seinem Social-Media-Auftritt, der die englischen Fans aus dem Teamcamp in Rupino am Laufenden hält, steht er beispielhaft für die Offenheit dieser Mannschaft. Aber auch auf dem Platz scheint er das Leben und die Seele seines Teams zu sein. Er reißt die Kollegen mit seiner Schnelligkeit, Technik und Spielfreude mit. Früher herrschten Blut, Schweiß und Tränen, heute Leichtigkeit. Gegen Panama hat Lingard – fußballerisches Vorbild ist Andres´ Iniesta – so getroffen, wie es dem neuen England gerecht wird: Eine flotte Kombination schloss er mit einem Schlenzer ins Kreuzeck ab.
Aber Lingards Werdegang nährt zugleich auch englische Hoffnungen. Er zeigt, dass nicht all jene englischen Talente, die zuletzt so große Erfolge im Nachwuchsbereich gefeiert haben, zwangsläufig in der von Legionären dominierten Premier League aufgerieben werden müssen. Mit Lingard hat nach langer Zeit wieder ein Eigengewächs von Manchester United den Durchbruch in der Kampfmannschaft von Englands größtem Klub geschafft. Jose´ Mourinho hatte früh das Potenzial des Offensivspielers erkannt. „Er hat mir vertraut, er hat mich in großen Partien und Woche für Woche eingesetzt“, erklärte Lingard.
Gareth Southgate, der englische Teamchef, ging einen ganz ähnlichen Weg. Egal, wie diese WM enden wird – was mit den Three Lions bisher geschah, ist mehr als nur ein Umbruch, wie ihn Nationalteams in regelmäßigen Abständen erleben. Mit der Verjüngung und dem Systemwechsel hat Southgate, die einstige Interimslösung, den Engländern auch den Druck genommen, der sie bis- her so gehemmt hat. Selbst vor einem möglichen Elfmeterschießen hat diese Mannschaft keine Angst mehr (siehe Artikel rechts).
„Generation Southgate“
Als U21-Teamchef hat Southgate 2014 an der „England DNA Philosophy“mitgeschrieben, dem Masterplan für das englischen Nationalteam der Zukunft. Zentraler Punkt darin: „Intelligenter, dominanter Ballbesitz“. Spieler wie Dele Alli, 22, Marcus Rashford, 21, Jordan Pickford, 24, haben unter ihm schon in der U21 debütiert. Auch Jesse Lingard hat Southgate im Nachwuchs betreut, ehe er ihn ins A-Team holte. In Russland ist Lingard nun zu einem der Wortführer dieses neuen englischen Teams geworden. „Es fühlt sich an wie eine Revolution“, sagte der Angreifer. „Egal in welcher Runde, wir werden ohne Angst spielen. Wir werden uns nicht ändern, für niemanden und für kein Team.“