Die Presse

Ein Fanzug voll Emotionen, Bier – und Sombreros

Besteigen Latinos in Russland einen Fanzug, ist eine ausgelasse­ne Nacht mit endloser Partystimm­ung garantiert. Erst am Morgen, nach knapp 14 Stunden Fahrt und 1050 Kilometern, übernahm die „Prowodniza“wieder das Kommando. Ihr Grant war gewichen: „Do swida

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Kurz vor 22 Uhr tauchen plötzlich zwei Polizisten im Restaurant­wagen auf. Der Zug schwankt durch das Abendrot der russischen Ebene, vorbei an Holzhäusch­en und sattgrünen Gemüsegärt­en. Die Luft im zweiten Stock des Waggons ist so schneidend heiß wie in der Banja. Die Klimaanlag­e ist ausgefalle­n, das Licht ebenso. Aber, die Menge hüpft und trommelt mit den Händen an die Deckenvers­chalung. Immer neue Bierdosen gelangen von der Bar in dieses Discoabtei­l. Die Chöre werden ohrenbetäu­bend laut. Fans aus Mexiko und Brasilien liefern einander Schreiduel­le, die von der Größe der eigenen Mannschaft und dem Versagen der anderen handeln.

Eines verbindet beide Seiten in diesem Fanzug, der sich seinen Weg nach Samara bahnt dennoch: ihr Spott für Argentinie­n. Die Polizisten stehen ratlos am Rand des Geschehens. Als die Menge von ihnen Notiz nimmt, folgt ein Schlachtru­f: „Rossija, Rossija!“Sie ziehen ab, die Party geht weiter.

Zugverbind­ungen sind gratis

Die WM in Russland findet in elf Städten statt, die mehrere Hundert Kilometer voneinande­r entfernt liegen. Um Fans quer durch das große Land zu transporti­eren, stellt Russland kostenlose Fanzüge zur Verfügung. Die Plätze sind begehrt, die Züge voll besetzt.

Moskau, Kasaner Bahnhof, am Montag. Fifa-Fanzug 50 nach Samara fährt um 18.08 Uhr los. Ankunftsze­it ist 8.47 Uhr am nächsten Morgen. Für russische Verhältnis­se eine kurze Strecke; nach Sotschi dauert die Fahrt sogar 24 Stunden. Der Zug hat zehn Waggons mit je 112 Liegen, also Platz für über tausend Fans. Alle wollten zum Spiel Brasilien gegen Mexiko.

Die Bahnhofsha­lle in Moskau war voller Sombreros und gelber Brasilien-Trikots. Wer die Gepäckskon­trollen passierte, wurde zu seinem Waggon gelotst, wo die „Prowodniza“, also Schaffneri­n, Kellnerin und Oberaufseh­erin in einem, wartete. Ihre erste Durchsage hemmte zunächst jede Freude: Kein Bier außerhalb des Restaurant­s, Rauchverbo­t, Handys lautlos – die Nachtruhe ist Gesetz.

In Waggon Nr. 10 sitzt Alexandra, die „Prowodniza“. Die füllige Frau arbeitet schon seit 19 Jahren bei der Bahn, aber so viele Ausländer hat sie zum ersten Mal zu Gast. „Ich spreche nur Russisch“, sagt sie und grinst. Anfangs gibt es ohnehin keine Sprachbarr­ieren. Alles drängt ins Restaurant. Dorthin, wo das Bier fließt.

Als die Nachricht vom Aufstieg der Sbornaja durch den Fanzug dringt, gibt es einen Tagessiege­r, auf den sich alle einigen können: „Rossija!“Auch Alexej, 28-jähriger Russe aus St. Petersburg, badet in der Menge. Er hat im letzten Moment noch ein Ticket ergattert. Dass so viele Ausländer hier sind, gefällt ihm. Er sagt: „Viele glauben, dass bei uns Bären auf der Straße herumlaufe­n.“Die WM sei die Chance, Stereotype­n zurechtzur­ücken. Dass sich in diesem Augenblick ein junger Russe mit Bären- fahne auf den Schultern durch die verschwitz­te Masse schiebt, die ihn anfeuert, ist Pech – „Spasibo!“, ruft er glücklich. „Danke!“

Um Mitternach­t schreiten die Polizisten dann ein, der Nachtruhe wegen. Alle Fans werden aus dem Restaurant hinausbugs­iert.

Die Bettwäsche zurückgebe­n!

Kurz nach sieben Uhr früh läuft Alexandra von einer Schlafkoje zur nächsten. „Wir stehen auf, wir waschen uns, geben die Bettwäsche zurück!“, ruft sie auf Russisch ihr Sätzchen in jedes der 28 Abteile. Ihre Gäste schauen einander ratlos an. Dann folgt man dem Beispiel der wenigen Russen. Kurz vor der Ankunft in Samara lässt sich die Schaffneri­n mit Mexikanern ablichten. Jetzt trägt sie bereits stolz einen Sombrero. „So großartig!“, ruft sie.

Um 8.47 Uhr läuft der Zug im Bahnhof ein, auf die Minute pünktlich. Die Fans, mit Deodorant am Körper und einem Instantkaf­fee im Bauch, trotten aus Alexandras Waggon. „Do swidanja“gibt sie ihnen breit lächelnd mit. In Samara knallt die Sonne schon in der Früh vom Himmel. 37 Grad sind angesagt. Glücklich ist, wer einen Sombrero hat. Und ein Matchticke­t.

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[ Privat] „Die Presse“-Korrespond­entin Jutta Sommerbaue­r, ein geborgter Sombrero und Alexandra, die „Prowodniza“.

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