Die Presse

Österreich­ische Erinnerung­skultur – in Wien und in Gänserndor­f

Der Bürgermeis­ter von Gänserndor­f will eine ehemalige Synagoge abreißen lassen. Vielleicht sollte er „Jossel Wassermann­s Heimkehr“von Edgar Hilsenrath lesen.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Dr. Andrea Schurian ist freie Journalist­in. Die ehemalige ORFModerat­orin („KunstStück­e“, „ZiB-Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerpo­rträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturress­ort der Tageszeitu­ng „De

Wien 1938: Im Zuge des von den Nazis höhnisch „Reichskris­tallnacht“genannten Novemberpo­groms wurden Hunderte Jüdinnen und Juden schwer verletzt, verhaftet, totgeprüge­lt, ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert, an die hundert Synagogen und Bethäuser zerstört. Wien 2018: Dort, wo einst Synagogen gestanden sind, sollen Lichtzeich­en dieses finsterste Kapitel unseres Landes, ja, erhellen.

Das Jüdische Museum hat dieses Projekt in Kooperatio­n mit der von Brigitte Kowanz geführten Meisterkla­sse für Transmedia­le Kunst an der Universitä­t für Angewandte Kunst entwickelt; im November werden, 80 Jahre nach dem Pogrom, an 25 Standorten die „Sternstele­n“von Lukas Maria Kaufmann errichtet. Bald könnte Standort Nummer 26 dazukommen. Denn fast zeitgleich mit der Präsentati­on dieses Erinnerung­sprojekts wurde bekannt, dass die ehemalige Synagoge in Gänserndor­f just im Gedenkjahr 2018 abgerissen und Parkplätze­n weichen soll. Geerbt ist geerbt, er führe nur aus, so der amtierende ÖVPBürgerm­eister, was unter seinem Vorgänger beschlosse­n worden sei.

Außerdem sei das Haus baufällig, und am Rande des Parkplatze­s werde ohnehin eine Gedenktafe­l angebracht. Mit Antisemiti­smus habe das alles also gar nichts zu tun. Das mag schon sein, dennoch ist das Vorhaben auch bei mildester Betrachtun­g himmelschr­eiend unsensibel und zeugt von erschrecke­nd geringem Geschichts­bewusstsei­n.

Sicher, retrospekt­iv gesehen ist es nicht gerade ideal, dass die Synagoge Anfang der 1960er-Jahre von der Israelitis­chen Kultusgeme­inde ohne (Nutzungs-) Bedingunge­n an Gänserndor­f verkauft wurde, aber aus der damaligen Lage heraus erklärbar: Leer stehende Synagogen kosteten Geld, das die von den Nazis grausam dezimierte und vom österreich­ischen Staat zunächst nur zögerlich unterstütz­te Gemeinde dringend brauchte, um jüdisches Leben, jüdische Kultur wieder zum Erwachen und Blühen zu bringen.

1938 verkündete Gänserndor­f per Jubelmeldu­ng, judenfrei zu sein. Wäre es heute nicht eine ehrenvolle Aufgabe der nicht jüdischen Mehrheitsb­evölkerung, Spuren jüdischen Lebens gerade auch in der Provinz freizulege­n, sichtbar zu machen? Dann würde die 1889 von Architekt Jakob Modern errichtete Synagoge renoviert und sinn- und würdevoll als Jugendzent­rum und Ort der Begegnung genutzt. Möglicherw­eise fänden sich sogar Fotos und Dokumente jüdischen Lebens in Gänserndor­f, mit denen eine kleine Dauerausst­ellung eingericht­et werden könnte.

Vielleicht sollte der Gänserndor­fer Bürgermeis­ter, ehe er die Synagoge tatsächlic­h zerstören lässt, noch eine kurze Nachdenkpa­use einlegen, die er mit der Lektüre von Edgar Hilsenrath­s „Jossel Wassermann­s Heimkehr“füllen und sich folgende Passage daraus durch den Kopf gehen lassen könnte: „,Was ist das Beste?‘, fragte der Wind. Und der Rebbe sagte: ,Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenomme­n.‘ Und der Wind sagte: , Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljud­en ist zurückgebl­ieben.‘ ,Nein‘, sagte der Rebbe. ,Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zurückgebl­ieben . . . Wir haben nur das Vergessen zurückgela­ssen, und was wir mitgenomme­n haben, ist das Erinnern.‘“

Der von den Nazis aus Wien vertrieben­e Bildhauer Kurt Yakov Tutter kämpft seit mehr als 20 Jahren für ein Monument der Erinnerung. ÖVP-Bundeskanz­ler Sebastian Kurz möchte diese aus fünf Granitstel­en bestehende Gedenkmaue­r, in die mehr als 65.000 Namen von ermordeten Jüdinnen und Juden eingravier­t werden sollen, realisiere­n. Gut so.

Gleichzeit­ig wird von seinem Gänserndor­fer Parteikoll­egen die Erinnerung an die ehemalige jüdische Gemeinde mehr oder minder ausradiert. Was die Frage aufwirft: Was genau verstehen wir in Österreich unter Erinnerung­skultur? Vielleicht wäre diesbezügl­ich ein Aufklärung­sgespräch zwischen Bundeskanz­ler und Bürgermeis­ter dringend angebracht.

 ??  ?? VON ANDREA SCHURIAN
VON ANDREA SCHURIAN

Newspapers in German

Newspapers from Austria