Österreichische Erinnerungskultur – in Wien und in Gänserndorf
Der Bürgermeister von Gänserndorf will eine ehemalige Synagoge abreißen lassen. Vielleicht sollte er „Jossel Wassermanns Heimkehr“von Edgar Hilsenrath lesen.
Wien 1938: Im Zuge des von den Nazis höhnisch „Reichskristallnacht“genannten Novemberpogroms wurden Hunderte Jüdinnen und Juden schwer verletzt, verhaftet, totgeprügelt, ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert, an die hundert Synagogen und Bethäuser zerstört. Wien 2018: Dort, wo einst Synagogen gestanden sind, sollen Lichtzeichen dieses finsterste Kapitel unseres Landes, ja, erhellen.
Das Jüdische Museum hat dieses Projekt in Kooperation mit der von Brigitte Kowanz geführten Meisterklasse für Transmediale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst entwickelt; im November werden, 80 Jahre nach dem Pogrom, an 25 Standorten die „Sternstelen“von Lukas Maria Kaufmann errichtet. Bald könnte Standort Nummer 26 dazukommen. Denn fast zeitgleich mit der Präsentation dieses Erinnerungsprojekts wurde bekannt, dass die ehemalige Synagoge in Gänserndorf just im Gedenkjahr 2018 abgerissen und Parkplätzen weichen soll. Geerbt ist geerbt, er führe nur aus, so der amtierende ÖVPBürgermeister, was unter seinem Vorgänger beschlossen worden sei.
Außerdem sei das Haus baufällig, und am Rande des Parkplatzes werde ohnehin eine Gedenktafel angebracht. Mit Antisemitismus habe das alles also gar nichts zu tun. Das mag schon sein, dennoch ist das Vorhaben auch bei mildester Betrachtung himmelschreiend unsensibel und zeugt von erschreckend geringem Geschichtsbewusstsein.
Sicher, retrospektiv gesehen ist es nicht gerade ideal, dass die Synagoge Anfang der 1960er-Jahre von der Israelitischen Kultusgemeinde ohne (Nutzungs-) Bedingungen an Gänserndorf verkauft wurde, aber aus der damaligen Lage heraus erklärbar: Leer stehende Synagogen kosteten Geld, das die von den Nazis grausam dezimierte und vom österreichischen Staat zunächst nur zögerlich unterstützte Gemeinde dringend brauchte, um jüdisches Leben, jüdische Kultur wieder zum Erwachen und Blühen zu bringen.
1938 verkündete Gänserndorf per Jubelmeldung, judenfrei zu sein. Wäre es heute nicht eine ehrenvolle Aufgabe der nicht jüdischen Mehrheitsbevölkerung, Spuren jüdischen Lebens gerade auch in der Provinz freizulegen, sichtbar zu machen? Dann würde die 1889 von Architekt Jakob Modern errichtete Synagoge renoviert und sinn- und würdevoll als Jugendzentrum und Ort der Begegnung genutzt. Möglicherweise fänden sich sogar Fotos und Dokumente jüdischen Lebens in Gänserndorf, mit denen eine kleine Dauerausstellung eingerichtet werden könnte.
Vielleicht sollte der Gänserndorfer Bürgermeister, ehe er die Synagoge tatsächlich zerstören lässt, noch eine kurze Nachdenkpause einlegen, die er mit der Lektüre von Edgar Hilsenraths „Jossel Wassermanns Heimkehr“füllen und sich folgende Passage daraus durch den Kopf gehen lassen könnte: „,Was ist das Beste?‘, fragte der Wind. Und der Rebbe sagte: ,Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.‘ Und der Wind sagte: , Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljuden ist zurückgeblieben.‘ ,Nein‘, sagte der Rebbe. ,Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zurückgeblieben . . . Wir haben nur das Vergessen zurückgelassen, und was wir mitgenommen haben, ist das Erinnern.‘“
Der von den Nazis aus Wien vertriebene Bildhauer Kurt Yakov Tutter kämpft seit mehr als 20 Jahren für ein Monument der Erinnerung. ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz möchte diese aus fünf Granitstelen bestehende Gedenkmauer, in die mehr als 65.000 Namen von ermordeten Jüdinnen und Juden eingraviert werden sollen, realisieren. Gut so.
Gleichzeitig wird von seinem Gänserndorfer Parteikollegen die Erinnerung an die ehemalige jüdische Gemeinde mehr oder minder ausradiert. Was die Frage aufwirft: Was genau verstehen wir in Österreich unter Erinnerungskultur? Vielleicht wäre diesbezüglich ein Aufklärungsgespräch zwischen Bundeskanzler und Bürgermeister dringend angebracht.