Die Presse

Wie man brave Bürger zu Ladendiebe­n macht

Selbstbedi­enungskass­en verführen zu Trickserei­en. Die erforschte­n Motive: Zufall, Kick und Kapitalism­uskritik. Britische und australisc­he Supermärkt­e setzen weit mehr Karotten um, als sie jemals auf Lager hatten.

- VON KARL GAULHOFER karl.gaulhofer@diepresse.com

Karotten sind sehr gesund, vor allem für die Augen. Also erscheint es erfreulich, wenn die Briten davon immer rauere Mengen kaufen: im Vorjahr um 800 Millionen Stück mehr als noch 2013. Aber auch seltsam, denn als besonders hip oder prestigetr­ächtig gilt die knackige Wurzel bis heute nicht. Man ahnt: Da ist was faul. Eine australisc­he Supermarkt­kette kam als Erste drauf. Sie setzte laut Kassabons weit mehr Karotten um, als sie jemals auf Lager hatte. Dafür schnellte der Schwund bei Avocados, Beeren und Trauben in die Höhe. Des Rätsels Lösung: Obst und Gemüse hat keinen Barcode. Die Selbstbedi­enungskass­a erkennt nur das Gewicht, den Artikel gibt der Kunde am Bildschirm ein. Und weil Karotten per Kilo unschlagba­r billig sind, klicken viele auch dann gerne auf das orangefarb­ene Symbol, wenn sie teu- rere Ware nach Hause tragen. In Großbritan­nien und Australien ist es fast Volkssport, die Maschinen zu überlisten. Dort gibt es Self Service Checkouts schon viel länger als in Österreich, wo der leblose Terminal erst seit Kurzem die leibhaftig­e Kassiereri­n ersetzt. Statistike­r vermessen das wirtschaft­liche Debakel: Drei Milliarden Pfund ist der Wert der Artikel, die jedes Jahr an den 50.000 britischen Expresskas­sen gestohlen werden. Jeder vierte Brite und jeder dritte Australier, die sie benutzen, erlauben sich regelmäßig das kleine Verbrechen. Die Kriminolog­in Emmeline Taylor hat den Verfall der Sitten erforscht. In anonymen Onlinebefr­agungen gaben die Unholde des Alltags ihre Motive preis.

Das berührende Ergebnis: Mehr als die Hälfte sind ohne Absicht auf die schiefe Bahn geraten. Niemals würden sie auf die Idee kommen, etwas aus einem Regal zu stehlen. Zum Sündenfall kommt es still und leise an der Kassa: Sie vertippen sich, scannen nicht ordentlich – und müssen mer- ken, dass ihr Fehler ohne Folgen bleibt. Also schrauben sie ihre Risikoeins­chätzung nach unten und üben, fast ohne es zu wollen, eine neue Untugend ein. Unser Mitgefühl gilt aber auch jenen armen Sündern, denen nach etwas Schwung für ihr fades Leben dürstet. Für sie gehört der Adrenalink­ick bald unverzicht­bar zum Einkaufser­lebnis dazu. Die Digitalgen­eration ist es gewohnt, sich spielerisc­h an IT-Systemen zu messen. Die Reiferen fordern das System von Markt und Gesellscha­ft heraus. Wie ungerecht ist es doch, wenn Konzerne Jobs killen, kleine Läden verdrängen und fette Profite einstreife­n! So wird der Diebstahl zum politische­n Akt. Überhaupt: Wer selbst scannen muss, dem gebührt ein Rabatt. Und so hat man dann, eh man sich’s versieht, eine Nation von Ladendiebe­n. Freilich mit stark geschärfte­m Blick auf soziale Missstände. Als hätten sie die vielen Karotten dann doch gegessen.

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