Die Dämonen der Vergangenheit besiegt
England. Erst Gareth Southgate und der offensive Umgang mit dem Elfmetertrauma machten Englands Wandel möglich.
Moskau/Wien. Gareth Southgate ist ein gebranntes Kind. 1996, beim Elfmeterschießen im EM-Halbfinale gegen Deutschland, war er als sechster Schütze der Engländer angetreten. Southgate schoss, Andreas Köpke hielt – und England verlor. Es hatte ihn „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“getroffen, als der damalige Teamchef, Terry Venables, ihn um die Ausführung des Elfmeters bat. Southgate, das gestand er später, war mit der Situation überfordert.
Die Geschichte der englischen Fußballnationalmannschaft, sie ist eng mit Elfmeterdramen verbunden. Über all die Jahre wurde sogar eine nationale Psychose daraus. England verlor bei großen Endrunden sechs von sieben Entscheidungen vom Punkt: 1990 und 1996 gegen Deutschland, 1998 gegen Argentinien, 2004 und 2006 gegen Portugal und zuletzt 2012 gegen Italien. Einzig 1996 hatten die Three Lions im Viertelfinale gegen Spanien gewonnen, die Freude darüber wich aber der Enttäuschung über das Aus gegen den späteren Europameister Deutschland.
Gareth Southgate wollte seinen Spielern bei der Weltmeisterschaft in Russland eine solche Schmach ersparen, sie den Fragen nach einer eventuellen erneuten Niederlage nach Elfmeterschießen entziehen. Deshalb ging der 47-Jährige aus Watford, einer Stadt im Nordwesten Londons, offensiv mit dem Trauma einer ganzen Na- tion um, bereitete seine Mannschaft monatelang auf den Ernstfall vor. Seit März ließ er dieses im Fußball so spezielle Szenario trainieren, simulierte die mentale Ausnahmesituation, indem er seine Spieler immer wieder den langen Weg von der Mittellinie hin zum Elfmeterpunkt gehen ließ.
Alles eine Frage der Technik
„Wir haben verschiedene Studien und Übungen durchgeführt“, präzisierte der 57-fache Nationalspieler. „Wir müssen sicherstellen, dass wir das Geschehen kontrollieren, dass es ruhig ist und nicht zu viele Stimmen in den Köpfen der Spieler herumschwirren.“Elfme- terschießen, sagt Southgate, habe mit Glück nichts zu tun: „Es geht darum, unter Druck eine Technik auszuführen.“Bereits seit Mai stand die Liste der fünf Schützen und jene der fünf Ersatzleute fest, doch nicht einmal dem englischen Boulevard gelang es, sie vorab in Erfahrung zu bringen.
Auch deshalb wechselte Southgate in der Verlängerung Marcus Rashford ein, der erst 20-Jährige von Manchester United verwandelte sicher. So wie auch Kieran Trippier. „Wir haben Elfmeter nach so vielen Trainingseinheiten extra trainiert, wenn wir alle schon müde waren. Es hat sich gelohnt.“Erstaunlich ist der Erfolg Englands auch deshalb, weil nur Harry Kane und Jamie Vardy (trat nicht an) bei ihren Klubs regelmäßige Elfmeterschützen sind. „Aber wir hatten den totalen Glauben bis zum Ende“, sagte Eric Dier, der den letzten Elfmeter verwandelte und gestand: „Ich war nervös, ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich bin dankbar, dass ich getroffen habe, ein großartiger Augenblick.“
Witze über die Statistik
Die Dämonen der Vergangenheit, sie sind nun, das hoffen die Engländer, für immer besiegt. „Es war schrecklich für uns über all die Jahre“, gestand Kane, der bei mitt- lerweile sechs Turniertreffern hält und auf die Torjägerkrone zusteuert. Die verheerende Statistik lähmte Englands Mannschaft nicht, im Gegenteil. „Wir waren relaxed, weil wir vorher Witze darüber gemacht haben“, betonte Southgate, der sich auch auf 1,85-Meter-Mann Jordan Pickford im Tor verlassen konnte. Der sagte später: „Mich kümmert es nicht, falls ich nicht der größte Torwart der Welt sein sollte, ich habe die Kraft und Beweglichkeit.“
Doch all die Kraft und Beweglichkeit Pickfords hätten vielleicht nichts genutzt, hätte Kolumbiens Mateus Uribe als vierter Schütze nicht nur die Latte getroffen . . .