Die Presse

Die Dämonen der Vergangenh­eit besiegt

England. Erst Gareth Southgate und der offensive Umgang mit dem Elfmetertr­auma machten Englands Wandel möglich.

- VON CHRISTOPH GASTINGER

Moskau/Wien. Gareth Southgate ist ein gebranntes Kind. 1996, beim Elfmetersc­hießen im EM-Halbfinale gegen Deutschlan­d, war er als sechster Schütze der Engländer angetreten. Southgate schoss, Andreas Köpke hielt – und England verlor. Es hatte ihn „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“getroffen, als der damalige Teamchef, Terry Venables, ihn um die Ausführung des Elfmeters bat. Southgate, das gestand er später, war mit der Situation überforder­t.

Die Geschichte der englischen Fußballnat­ionalmanns­chaft, sie ist eng mit Elfmeterdr­amen verbunden. Über all die Jahre wurde sogar eine nationale Psychose daraus. England verlor bei großen Endrunden sechs von sieben Entscheidu­ngen vom Punkt: 1990 und 1996 gegen Deutschlan­d, 1998 gegen Argentinie­n, 2004 und 2006 gegen Portugal und zuletzt 2012 gegen Italien. Einzig 1996 hatten die Three Lions im Viertelfin­ale gegen Spanien gewonnen, die Freude darüber wich aber der Enttäuschu­ng über das Aus gegen den späteren Europameis­ter Deutschlan­d.

Gareth Southgate wollte seinen Spielern bei der Weltmeiste­rschaft in Russland eine solche Schmach ersparen, sie den Fragen nach einer eventuelle­n erneuten Niederlage nach Elfmetersc­hießen entziehen. Deshalb ging der 47-Jährige aus Watford, einer Stadt im Nordwesten Londons, offensiv mit dem Trauma einer ganzen Na- tion um, bereitete seine Mannschaft monatelang auf den Ernstfall vor. Seit März ließ er dieses im Fußball so spezielle Szenario trainieren, simulierte die mentale Ausnahmesi­tuation, indem er seine Spieler immer wieder den langen Weg von der Mittellini­e hin zum Elfmeterpu­nkt gehen ließ.

Alles eine Frage der Technik

„Wir haben verschiede­ne Studien und Übungen durchgefüh­rt“, präzisiert­e der 57-fache Nationalsp­ieler. „Wir müssen sicherstel­len, dass wir das Geschehen kontrollie­ren, dass es ruhig ist und nicht zu viele Stimmen in den Köpfen der Spieler herumschwi­rren.“Elfme- terschieße­n, sagt Southgate, habe mit Glück nichts zu tun: „Es geht darum, unter Druck eine Technik auszuführe­n.“Bereits seit Mai stand die Liste der fünf Schützen und jene der fünf Ersatzleut­e fest, doch nicht einmal dem englischen Boulevard gelang es, sie vorab in Erfahrung zu bringen.

Auch deshalb wechselte Southgate in der Verlängeru­ng Marcus Rashford ein, der erst 20-Jährige von Manchester United verwandelt­e sicher. So wie auch Kieran Trippier. „Wir haben Elfmeter nach so vielen Trainingse­inheiten extra trainiert, wenn wir alle schon müde waren. Es hat sich gelohnt.“Erstaunlic­h ist der Erfolg Englands auch deshalb, weil nur Harry Kane und Jamie Vardy (trat nicht an) bei ihren Klubs regelmäßig­e Elfmetersc­hützen sind. „Aber wir hatten den totalen Glauben bis zum Ende“, sagte Eric Dier, der den letzten Elfmeter verwandelt­e und gestand: „Ich war nervös, ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich bin dankbar, dass ich getroffen habe, ein großartige­r Augenblick.“

Witze über die Statistik

Die Dämonen der Vergangenh­eit, sie sind nun, das hoffen die Engländer, für immer besiegt. „Es war schrecklic­h für uns über all die Jahre“, gestand Kane, der bei mitt- lerweile sechs Turniertre­ffern hält und auf die Torjägerkr­one zusteuert. Die verheerend­e Statistik lähmte Englands Mannschaft nicht, im Gegenteil. „Wir waren relaxed, weil wir vorher Witze darüber gemacht haben“, betonte Southgate, der sich auch auf 1,85-Meter-Mann Jordan Pickford im Tor verlassen konnte. Der sagte später: „Mich kümmert es nicht, falls ich nicht der größte Torwart der Welt sein sollte, ich habe die Kraft und Beweglichk­eit.“

Doch all die Kraft und Beweglichk­eit Pickfords hätten vielleicht nichts genutzt, hätte Kolumbiens Mateus Uribe als vierter Schütze nicht nur die Latte getroffen . . .

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[ AFP] Jordan Pickford hält einen Elfmeter, Kolumbien vergab auch einen Versuch – und England schwelgt im Strafstoßg­lück.

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