Die Presse

Die Zukunft der EU hängt von ihrer Verschweiz­erung ab

Zu den Prioritäte­n der österreich­ischen EU-Präsidents­chaft gehört die Stärkung der Subsidiari­tät. Konsequent­e Dezentrali­sierung ist das Gebot der Stunde.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).

Der Populismus lebt von simplen Formeln. In diesen Wochen haben wir in der Migrations­debatte geradezu eine Orgie der Simplifizi­erung erlebt. Angela Merkel, die CDU und ihre Freunde auf der Linken entledigen sich der Komplexitä­t des Problems der Eindämmung der Migration, indem sie ein Entweder-oder zwischen europäisch­en und nationalen Lösungen konstruier­en.

Die Vernunft rät nämlich nicht einfach zu „mehr Europa“, sondern zu ineinander­greifenden, wirksamen Maßnahmen auf nationalst­aatlicher, zwischenst­aatlicher und europäisch­er Ebene. So etwa steht es dann auch in der unverbindl­ichen Absichtser­klärung des jüngsten EU-Gipfels und in der Übereinkun­ft der deutschen Unionspart­eien über ein neues Grenzregim­e. Was die Nationalst­aaten leisten können, sollen sie tun, wobei sie die legitimen Interessen ihrer Nachbarn natürlich berücksich­tigen müssen.

Ein gesamteuro­päisches Vorgehen ist erst erforderli­ch, wenn es um Aufgaben geht, die von einem oder mehreren Nationalst­aaten allein nicht mehr zufriedens­tellend bewältigt werden können, etwa im Fall des Frontex-Einsatzes zum Schutz der Außengrenz­en der Union im Mittelmeer.

Hingegen ist die Eindämmung der Sekundärmi­gration durch die Zurückweis­ung von Migranten, deren Asylantrag entweder schon abgelehnt oder in einem anderen Land gestellt wurde, kein Problem, das bereits nach einer supranatio­nalen Interventi­on riefe. Da geht es um Maßnahmen, die sich nicht nur nicht gegen die gemeinsame­n europäisch­en Interessen richten, sondern die ihnen entgegenko­mmen, weil die Austrocknu­ng des Asyltouris­mus die Attraktivi­tät der EU als Migrations­ziel verringert.

Kein Mensch, der alle Tassen im Schrank hat, will heute zurück zu einem System der Nationalst­aaten, wie es vor 100 Jahren aus den Ruinen der multinatio­nalen Reiche hervorgega­ngen ist. Denn die damals entstanden­en Staaten gefährdete­n erst recht den Frieden und die Freiheit der Bürger und Nationalit­äten in Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zwar die Nato und nicht die EU, die den Frieden sicherte, aber zweifellos war die europäisch­e Integratio­n auf einer Vielzahl von Gebieten ein Fortschrit­t. Um ihre Errungensc­haften bewahren zu können, muss der Grundsatz der Subsidiari­tät (von lat. „subsidium“= Hilfe, Beistand) jedoch endlich ernst genommen werden.

Sowohl für den klassische­n Liberalism­us als auch für die katholisch­e Soziallehr­e ist die Subsidiari­tät das zentrale Ordnungspr­inzip. „Was der Einzelmens­ch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann“, dürfe ihm „nicht entzogen und der Gesellscha­ftstätigke­it zugewiesen werden“, schrieb Papst Pius XI. in seiner gegen den totalen Staat gerichtete­n Enzyklika „Quadragesi­mo anno“(1931).

Es sei nicht gerecht, „das, was die kleineren und untergeord­neten Gemeinwese­n leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordn­ete Gemeinscha­ft in Anspruch zu nehmen“. Im klassische­n Liberalism­us (nicht zu verwechsel­n mit dem linksdrehe­nden Mainstream-Liberalall­a) baut Subsidiari­tät auf der individuel­len Freiheit und Eigenveran­twortung auf.

Von der Gemeinde aufwärts beziehen alle Ebenen ihre Legitimitä­t von der freiwillig­en, widerrufli­chen Abtretung der Souveränit­ät durch die Bürger. Die verwaschen formuliert­en Verträge der EU reduzieren die Subsidiari­tät allerdings auf die Kompetenze­nteilung zwischen der Gemeinscha­ft und den Nationalst­aaten, die subnationa­len Ebenen kommen da nicht einmal vor.

Während der EU-Präsidents­chaft will Österreich „den Fokus auf mehr Subsidiari­tät richten“, um zu klären, „in welchen Bereichen es mehr Europa braucht, und in welchen Bereichen weniger“.

Gut so, aber das kann nur ein erster Schritt sein. Nötig wäre eine radikale Dezentrali­sierung der Entscheidu­ngsprozess­e nach dem Vorbild der Eidgenosse­nschaft. In ihrer Verschweiz­erung liegt die Zukunft der EU.

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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