Die Zukunft der EU hängt von ihrer Verschweizerung ab
Zu den Prioritäten der österreichischen EU-Präsidentschaft gehört die Stärkung der Subsidiarität. Konsequente Dezentralisierung ist das Gebot der Stunde.
Der Populismus lebt von simplen Formeln. In diesen Wochen haben wir in der Migrationsdebatte geradezu eine Orgie der Simplifizierung erlebt. Angela Merkel, die CDU und ihre Freunde auf der Linken entledigen sich der Komplexität des Problems der Eindämmung der Migration, indem sie ein Entweder-oder zwischen europäischen und nationalen Lösungen konstruieren.
Die Vernunft rät nämlich nicht einfach zu „mehr Europa“, sondern zu ineinandergreifenden, wirksamen Maßnahmen auf nationalstaatlicher, zwischenstaatlicher und europäischer Ebene. So etwa steht es dann auch in der unverbindlichen Absichtserklärung des jüngsten EU-Gipfels und in der Übereinkunft der deutschen Unionsparteien über ein neues Grenzregime. Was die Nationalstaaten leisten können, sollen sie tun, wobei sie die legitimen Interessen ihrer Nachbarn natürlich berücksichtigen müssen.
Ein gesamteuropäisches Vorgehen ist erst erforderlich, wenn es um Aufgaben geht, die von einem oder mehreren Nationalstaaten allein nicht mehr zufriedenstellend bewältigt werden können, etwa im Fall des Frontex-Einsatzes zum Schutz der Außengrenzen der Union im Mittelmeer.
Hingegen ist die Eindämmung der Sekundärmigration durch die Zurückweisung von Migranten, deren Asylantrag entweder schon abgelehnt oder in einem anderen Land gestellt wurde, kein Problem, das bereits nach einer supranationalen Intervention riefe. Da geht es um Maßnahmen, die sich nicht nur nicht gegen die gemeinsamen europäischen Interessen richten, sondern die ihnen entgegenkommen, weil die Austrocknung des Asyltourismus die Attraktivität der EU als Migrationsziel verringert.
Kein Mensch, der alle Tassen im Schrank hat, will heute zurück zu einem System der Nationalstaaten, wie es vor 100 Jahren aus den Ruinen der multinationalen Reiche hervorgegangen ist. Denn die damals entstandenen Staaten gefährdeten erst recht den Frieden und die Freiheit der Bürger und Nationalitäten in Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zwar die Nato und nicht die EU, die den Frieden sicherte, aber zweifellos war die europäische Integration auf einer Vielzahl von Gebieten ein Fortschritt. Um ihre Errungenschaften bewahren zu können, muss der Grundsatz der Subsidiarität (von lat. „subsidium“= Hilfe, Beistand) jedoch endlich ernst genommen werden.
Sowohl für den klassischen Liberalismus als auch für die katholische Soziallehre ist die Subsidiarität das zentrale Ordnungsprinzip. „Was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann“, dürfe ihm „nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden“, schrieb Papst Pius XI. in seiner gegen den totalen Staat gerichteten Enzyklika „Quadragesimo anno“(1931).
Es sei nicht gerecht, „das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen“. Im klassischen Liberalismus (nicht zu verwechseln mit dem linksdrehenden Mainstream-Liberalalla) baut Subsidiarität auf der individuellen Freiheit und Eigenverantwortung auf.
Von der Gemeinde aufwärts beziehen alle Ebenen ihre Legitimität von der freiwilligen, widerruflichen Abtretung der Souveränität durch die Bürger. Die verwaschen formulierten Verträge der EU reduzieren die Subsidiarität allerdings auf die Kompetenzenteilung zwischen der Gemeinschaft und den Nationalstaaten, die subnationalen Ebenen kommen da nicht einmal vor.
Während der EU-Präsidentschaft will Österreich „den Fokus auf mehr Subsidiarität richten“, um zu klären, „in welchen Bereichen es mehr Europa braucht, und in welchen Bereichen weniger“.
Gut so, aber das kann nur ein erster Schritt sein. Nötig wäre eine radikale Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse nach dem Vorbild der Eidgenossenschaft. In ihrer Verschweizerung liegt die Zukunft der EU.