Neuer Nowitschok-Schock für Briten
Großbritannien. In Südengland befindet sich ein Paar nach dem Kontakt mit dem russischen Nervengift in kritischem Zustand. Der Fall zeigt Parallelen zur Giftaffäre um die Skripals.
Die britische Öffentlichkeit fürchtet einen zweiten „Fall Skripal“. Die Behörden räumten ein, dass es erneut zu einer Vergiftung nach Kontakt mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok gekommen sei – und wie im Fall Skripal in der südenglischen Grafschaft Wiltshire. Ein Mann (45) und eine Frau (44) seien „in kritischem Zustand“, hieß es. Beide sind britische Staatsbürger.
Der Fall Skripal hatte im März nicht nur Schlagzeilen gemacht, sondern auch die Weltpolitik bewegt. Der ehemalige Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter, Julia, waren im März in Salisbury auf einer Parkbank bewusstlos aufgefunden worden. Die britische Regierung beschuldigte umgehend die russische Führung, der Kreml wies alle Vorwürfe zurück. Der britische Außenminister Boris Johnson verglich die Fußball-WM in Russland mit den Olympischen Spielen in Hitler-Deutschland, Premierminister Theresa May schwor die EU-Partner auf eine harte Linie gegen Moskau ein. Mehr als 130 russische Diplomaten wurden weltweit ausgewiesen.
Nach britischen Angaben waren Skripal (67) und seine Tochter Julia (33) mit dem Nervengift Nowitschok attackiert worden, einem chemischen Kampfstoff aus den Beständen der ehemaligen Sowjetunion. Entgegen allen Prognosen wurde Julia nach drei Wochen in der Intensivstation aus dem Krankenhaus entlassen, ihr Vater folgte wenige Tage später. Julia konnte das Spital schon im April verlassen, ihr Vater einen Monat später.
Beide leben unter staatlichem Schutz an einem unbekannten Ort. London hat Moskaus Ansuchen um konsularische Kontaktaufnahme bisher abgelehnt. Julia Skripal erklärte nach ihrer Genesung, sie wolle „wieder nach Moskau zurückkehren – aber noch nicht jetzt“.
In der Nähe der Stadt Salisbury befindet sich in Porton Down eine der wichtigsten Teststationen für Chemiewaffen der britischen Streitkräfte. Der 45-jährige Charlie Rowley und die 44-jährige Dawn Sturgess waren bereits am Wochenende im benachbarten Amesbury bewusstlos aufgefunden worden. Sie waren nicht ansprechbar und hatten Schaum vor dem Mund. „Wir waren zuerst davon ausgegangen, dass es sich um Drogenmissbrauch handelt“, sagte ein Polizeisprecher. Tests in Porton Down hätten dann aber einen neuen Fall von Nowitschok nachgewiesen. „Unsere Ermittlungen konzentrieren sich nun darauf, wie die beiden Opfer mit dem Gift in Kontakt gekommen sind.“
Der britische Innenminister Sajid Javid berief eine Krisensitzung ein. Rasche Erkenntnisse erwartet er jedoch offenbar nicht. „Wir müssen der Polizei jetzt Zeit für Ermittlungen geben“, sagte er. Mehr als 100 Polizisten seien dafür abgestellt worden. Fünf mögliche Tatorte seien bereits abgeriegelt worden. Die Behörden gaben indessen Terror-Entwarnung: Das Paar sei nicht Ziel eines Anschlags gewesen, hieß es in London.
Obwohl Großbritannien mit seinen Vorwürfen gegen Moskau nun blamiert dazustehen scheint und höhnische Reaktionen aus dem Kreml nur eine Frage der Zeit waren, glauben britische Experten weiter an eine russische Spur. Sergei Skripal und seine Tochter seien von russischen Agenten vor ihrer Vergiftung „beobachtet“worden. Der neue Vorfall sei höchstwahrscheinlich dadurch zu erklären, dass die Angreifer gegen die Skripals das Giftgas „einfach schlampig irgendwo weggeworfen“hätten.
Russische Experten erklärten dagegen, womöglich sei das Nervengift in Porton Down schlecht gelagert gewesen. Ein russischer Ex-Geheimdienstchef mutmaßte, es handle sich vielleicht um einen Racheakt eines dortigen Mitarbeiters. Und die russische Botschaft in den Niederlanden twitterte: Es wäre dumm anzunehmen, Russland würde zur Zeit der FußballWM einen derartigen Anschlag ausüben.