Die Presse

Neuer Nowitschok-Schock für Briten

Großbritan­nien. In Südengland befindet sich ein Paar nach dem Kontakt mit dem russischen Nervengift in kritischem Zustand. Der Fall zeigt Parallelen zur Giftaffäre um die Skripals.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die britische Öffentlich­keit fürchtet einen zweiten „Fall Skripal“. Die Behörden räumten ein, dass es erneut zu einer Vergiftung nach Kontakt mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok gekommen sei – und wie im Fall Skripal in der südenglisc­hen Grafschaft Wiltshire. Ein Mann (45) und eine Frau (44) seien „in kritischem Zustand“, hieß es. Beide sind britische Staatsbürg­er.

Der Fall Skripal hatte im März nicht nur Schlagzeil­en gemacht, sondern auch die Weltpoliti­k bewegt. Der ehemalige Doppelagen­t Sergej Skripal und seine Tochter, Julia, waren im März in Salisbury auf einer Parkbank bewusstlos aufgefunde­n worden. Die britische Regierung beschuldig­te umgehend die russische Führung, der Kreml wies alle Vorwürfe zurück. Der britische Außenminis­ter Boris Johnson verglich die Fußball-WM in Russland mit den Olympische­n Spielen in Hitler-Deutschlan­d, Premiermin­ister Theresa May schwor die EU-Partner auf eine harte Linie gegen Moskau ein. Mehr als 130 russische Diplomaten wurden weltweit ausgewiese­n.

Nach britischen Angaben waren Skripal (67) und seine Tochter Julia (33) mit dem Nervengift Nowitschok attackiert worden, einem chemischen Kampfstoff aus den Beständen der ehemaligen Sowjetunio­n. Entgegen allen Prognosen wurde Julia nach drei Wochen in der Intensivst­ation aus dem Krankenhau­s entlassen, ihr Vater folgte wenige Tage später. Julia konnte das Spital schon im April verlassen, ihr Vater einen Monat später.

Beide leben unter staatliche­m Schutz an einem unbekannte­n Ort. London hat Moskaus Ansuchen um konsularis­che Kontaktauf­nahme bisher abgelehnt. Julia Skripal erklärte nach ihrer Genesung, sie wolle „wieder nach Moskau zurückkehr­en – aber noch nicht jetzt“.

In der Nähe der Stadt Salisbury befindet sich in Porton Down eine der wichtigste­n Teststatio­nen für Chemiewaff­en der britischen Streitkräf­te. Der 45-jährige Charlie Rowley und die 44-jährige Dawn Sturgess waren bereits am Wochenende im benachbart­en Amesbury bewusstlos aufgefunde­n worden. Sie waren nicht ansprechba­r und hatten Schaum vor dem Mund. „Wir waren zuerst davon ausgegange­n, dass es sich um Drogenmiss­brauch handelt“, sagte ein Polizeispr­echer. Tests in Porton Down hätten dann aber einen neuen Fall von Nowitschok nachgewies­en. „Unsere Ermittlung­en konzentrie­ren sich nun darauf, wie die beiden Opfer mit dem Gift in Kontakt gekommen sind.“

Der britische Innenminis­ter Sajid Javid berief eine Krisensitz­ung ein. Rasche Erkenntnis­se erwartet er jedoch offenbar nicht. „Wir müssen der Polizei jetzt Zeit für Ermittlung­en geben“, sagte er. Mehr als 100 Polizisten seien dafür abgestellt worden. Fünf mögliche Tatorte seien bereits abgeriegel­t worden. Die Behörden gaben indessen Terror-Entwarnung: Das Paar sei nicht Ziel eines Anschlags gewesen, hieß es in London.

Obwohl Großbritan­nien mit seinen Vorwürfen gegen Moskau nun blamiert dazustehen scheint und höhnische Reaktionen aus dem Kreml nur eine Frage der Zeit waren, glauben britische Experten weiter an eine russische Spur. Sergei Skripal und seine Tochter seien von russischen Agenten vor ihrer Vergiftung „beobachtet“worden. Der neue Vorfall sei höchstwahr­scheinlich dadurch zu erklären, dass die Angreifer gegen die Skripals das Giftgas „einfach schlampig irgendwo weggeworfe­n“hätten.

Russische Experten erklärten dagegen, womöglich sei das Nervengift in Porton Down schlecht gelagert gewesen. Ein russischer Ex-Geheimdien­stchef mutmaßte, es handle sich vielleicht um einen Racheakt eines dortigen Mitarbeite­rs. Und die russische Botschaft in den Niederland­en twitterte: Es wäre dumm anzunehmen, Russland würde zur Zeit der FußballWM einen derartigen Anschlag ausüben.

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[ AFP ]

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