„Europa fehlt eine strategische Industriepolitik“
Interview. Infineon-Österreich-Chefin Sabine Herlitschka ortet in Europa zwar ein Erstarken der Industrie. Ohne massive Geldmittel und zeitgemäße Bildungsmodelle droht der Kontinent aber dennoch gegen China den Anschluss zu verlieren.
Die Presse: Infineon baut in Villach eine Chipfabrik um 1,6 Mrd. Euro. Der Konzern ist eine Ausnahme, denn einer Studie des Beraters EY zufolge zieht Österreich kaum ausländische Direktinvestitionen an. Was treibt Infineon an? Sabine Herlitschka: Wir haben uns auf die Themen Energieeffizienz, Mobilität und Sicherheit fokussiert. Unsere Strategie geht auf, wie die enorme Nachfrage auf den globalen Märkten zeigt. Wir sind im Automotive-Bereich Nummer zwei, in den beiden anderen Bereichen Nummer eins. Wir haben diese Kompetenz in Europa entwickelt und bauen sie hier aus. Wir erweitern auch die Kapazitäten in Dresden. Villach ist nicht nur die größte Investition in Österreich seit jeher, es ist auch die größte dieser Art in Europa.
Was macht Österreich attraktiv? Wir haben hier schon knapp 4000 Mitarbeiter und sind stark in F&E und Produktion. Ausschlaggebend sind das Know-how der Mitarbeiter, ihre Expertise, auch ihre Einstellung, Neues umzusetzen. Österreich bietet aber auch attraktive Rahmenbedingungen. Etwa mit der Forschungsprämie, generell mit einem guten Forschungs- und Innovationsumfeld, auch mit der geplanten Steuerreform 2020.
Es ist dennoch ein Wunder, dass in Europa just in der Halbleiterindustrie investiert wird. Die Musik spielt doch in den USA und Asien. Das stimmt. Aber wir orten global ein Erstarken des Industrie-Bewusstseins, auch in Europa. Brüssel hat sich – natürlich getrieben von der Entwicklung in den USA und China – zum Ziel gesetzt, dass 20 Prozent des europäischen BIPs aus der Industrie kommen sollen. Österreich ist auf dem Niveau, Europa mit rund 16 Prozent noch lange nicht. Laut dem entsprechenden EU-Report (Re-Finding Industry; Anm.) ist die Industrie bereits für 64 Prozent aller privaten F&E-Ausgaben verantwortlich. Man hat aber aus der Krise gelernt: Unternehmen mit einer starken Industriebasis bewältigen Krisen leichter. Die EU hat die Halbleiterindustrie als Schlüsselindustrie definiert. Gibt es auch genug Geld? Die Zahlen im neuen Finanzrahmen bis 2027 sprechen für sich: Das EU-Budget soll von rund 1000 auf 1300 Mrd. Euro aufgestockt werden. Auf Landwirtschaft und Strukturfonds entfallen 60 Prozent. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Für die gesamte Forschung sind 100 Mrd. Euro vorgesehen. Das EU-Parlament will 120 Mrd., eine renommierte Expertengruppe spricht von 160 Mrd. Euro. Der Elektronikbereich, der ja die Digitalisierung erst ermöglicht, soll fünf Mrd. Euro erhalten.
Frustriert Sie das nicht? China plant, im Rahmen der Strategie „Made in China 2025“150 Mrd. in den Aufbau einer eigenen Halbleiterindustrie zu investieren.
Wo bleibt da Europa? Wir laufen Gefahr, massiv den Anschluss zu verlieren. Der jetzige Vorschlag der Kommission reicht nicht. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass letztlich genug Geld für systemrelevante Schlüsseltechnologien zur Verfügung steht. Man hat den Eindruck, die Industrie macht zu wenig Druck. Es geht nicht nur um die Industrie, es geht um die Zukunft Europas, um unser wissensbasiertes Gesellschaftsmodell, um Werte wie Demokratie, Mitentscheidung, Chancengleichheit. All das ist bedroht, wenn wir die technologische Kompetenz verlieren. Dann haben andere Systeme das Sagen. Die österreichische Ratspräsidentschaft hat deshalb in den Budgetverhandlungen eine entscheidende Rolle.
Wenn man China besucht, spürt man direkt die Aufbruchstimmung, Hochtechnologien zu fördern. Und in Europa?
startete nach dem Studium der Lebensmittel- und Biotechnologie an der Uni für Bodenkultur und Zusatzstudien zur Wirtschaftstechnikerin inklusive MBA bei der Immuno. Nach Forschungsaufenthalten in den USA wurde sie 2011 Vorstand bei Infineon. 2014 übernahm sie die Leitung der Österreich-Tochter des Halbleiterkonzerns. Der setzte 2016/17 mit 37.500 Mitarbeitern 7,1 Mrd. Euro um. Was Europa vor allem fehlt, ist eine strategisch ausgerichtete Industrie- und Technologiepolitik. Europa hat keine. Wir halten den freien Handel hoch, das ist auch richtig. Aber unser Umfeld ändert sich rapid. Wenn China seine Position auf dem Weltmarkt ändert und die USA stärker protektionistisch agieren, müssen wir unsere Kompetenzen und Interessen sicherstellen. Als der deutsche Roboterhersteller Kuka nach China verkauft wurde, haben wir zugeschaut.
Deshalb mehren sich auch in Europa die Stimmen, die einen Schutz vor dem Ausverkauf von Schlüsseltechnologien und -firmen ins Ausland fordern. Das ist doch auch Protektionismus? Wir müssen die Balance schaffen: Unsere strategischen Kompetenzen und Interessen schützen, und gleichzeitig dürfen wir keine Festung Europa bauen. Es braucht Kompromisse.
Wie soll das gehen? Die österreichische Ratspräsidentschaft hat auf der Agenda, dass ausländische Direktinvestitionen geprüft werden. Die USA machen das, auch einige EU-Mitglieder. Wir brauchen europaweit einen Mechanismus, der sicherstellt, dass strategische Kompetenz nicht verkauft wird. Wir dürfen nicht naiv sein: China hat im Vorjahr in Europa 250 Firmen gekauft. Aus ihrer Sicht ist das nachvollziehbar, sie fokussieren auf Know-how und Infrastruktur. Das müssen wir auch machen.
Man hat aber den Eindruck, politische Krisen und die Flüchtlingsproblematik dominieren in der EU, und die anderen Themen bleiben auf der Strecke. Natürlich ist es Aufgabe der Politik, sich mit der Flüchtlingsproblematik zu befassen. Es ist aber auch deren Aufgabe, Europas Zukunft zu sichern. Es ist ja kein Wunder, dass viele Flüchtlinge nach Europa wollen, unser Gesellschaftsmodell verspricht gute Perspektiven. Genau deshalb brauchen wir die Digitalisierung. Sie ist für Europa eine riesige Chance: Erstmals geht es nicht um die günstigsten Lohnkosten, sondern um Wissen. Nicht die billigsten Hände, sondern die schlauesten Köpfe sind gefragt.
Die fehlen offenbar. Viele Firmen sagen, sie können aus Mangel an Fachkräften Aufträge nicht annehmen. Wie machen Sie das? Wir haben 200 offene Stellen und schaffen in F&E 860 zusätzliche Jobs. In der neuen Fabrik entstehen 400 Arbeitsplätze. Jeder zweite neue Mitarbeiter kommt aus dem Ausland. Es muss uns gelingen, mehr Menschen für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. Wir haben viele Initiativen gesetzt: einen internationalen zweisprachigen Kindergarten mit einem neuen pädagogischen Konzept, eine internationale Schule, und eine „virtuelle“Klasse in einer HTL in Klagenfurt.
Warum übernimmt die Bildungspolitik nicht solche Ideen? Auf das öffentliche Bildungswesen kommt eine Monsteraufgabe zu. Ich werde nicht müde, auf die Bedeutung der Digitalisierung hinzuweisen. Wir brauchen Experimente, um neue Konzepte zu erproben, die neue Fähigkeiten vermitteln. Warum nicht eine Schule der Digitalisierung gründen?