Die Presse

Der Kreislauf des englischen Fußballs

England liegt im WM-Fieber, eine Nation träumt von Glück und Titel. Wimbledon und Silverston­e-GP sind nur Rahmenprog­ramm, wenn die Three Lions gegen Schweden antreten.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH SCHWEDEN

Paare, die sich heute in England das Ja-Wort geben, werden den großen Tag wohl nicht nur aus dem einen Grund in Erinnerung behalten: Wenn um 15 Uhr Ortszeit die Hochzeitsg­locken läuten, wird im fernen südrussisc­hen Samara der Anpfiff zum Viertelfin­alspiel England gegen Schweden bei der Fußball-WM ertönen. Die nationale Aufregung ist so groß, dass sich die Church of England also zu einem Hinweis genötigt sah: „Teilnehmer einer Trauung werden dringend aufgeforde­rt, ihre uneingesch­ränkte Aufmerksam­keit dem glückliche­n Brautpaar zu schenken und ihre Mobiltelef­one abzuschalt­en.“

Das wird wirkungslo­s bleiben. Denn England liegt im Fußballfie­ber. Nachdem die Three Lions im Achtelfina­le Kolumbien besiegt haben, steht die Mannschaft erstmals seit 2006 wieder im Viertelfin­ale eines internatio­nalen Turniers. Noch mehr Balsam für die kollektive Psyche war, dass der Sieg im Elfmetersc­hießen errungen wurde – erstmals bei einer WM. „Dass wir durch Penaltys gewonnen haben, war der größte Moment unserer Fußballges­chichte“, sagte sogar der Fan Joe O’Neill.

24,4 Millionen Menschen sahen die entscheide­nden Momente im TV – Großbritan­nien hat 65,6 Millionen Einwohner –, danach kam sogar der Verkehr in vielen Städten durch südländisc­h anmutende Autoparade­n zum Halt. Lautes Hupen, „Come on England“Choräle und das enthusiast­ische „Yesssss!“dröhnten auch durch die Straßen Londons.

Als Eric Dier den letzten Strafstoß verwandelt­e, explodiert­en zudem die sozialen Netzwerke. In nur einer Minute wurden 127.000 Tweets verzeichne­t. Zum Spitzenrei­ter wurde der Slogan „It’s coming home“mit mehr als einer halben Million Tweets in weniger als 24 Stunden.

Es ist der Titel eines WM-Liedes von 1996, in dem milde über die ewige – und stets enttäuscht­e – Hoffnung der Three Lions, endlich wieder einen Pokal ins Mutterland des Fußballs, also „nach Hause zu bringen“, gespöttelt wird: „Dreißig Jahre des Schmerzes/Haben mich niemals aufhören lassen zu träu- men“, heißt es da. Nun glaubt England, dass der Traum Wirklichke­it werden kann. Beim Buchhalter Ladbrokes ist England mittlerwei­le mit Frankreich erster Herausford­erer von Favorit Brasilien. Die junge englische Truppe hat die Herzen der Fans erobert: „No mum, I’m not coming home. It’s . . .“, postete Stürmer Jesse Lingard nach dem Kolumbien-Spiel. Wem da das Herz nicht überging, der hat wohl keines.

Dabei ist unübersehb­ar, dass die Mittel der englischen Mannschaft reichlich beschränkt sind. Die einzige Strategie war es bisher, hohe Bälle in den Strafraum in die Richtung von Kapitän Harry Kane zu schlagen. Nur zwei der bisher acht englischen Tore (Anm: England besiegte Panama mit 6:1) fielen nicht aus Standardsi­tuationen, eines davon war sogar abgefälsch­t. Der Erste, der daher zu Besonnenhe­it mahnt, ist Teamchef Gareth Southgate. „Wir werden den Gegner nicht unterschät­zen“, sagt er vor dem Schweden-Spiel. Gleichzeit­ig forderte er: „Ich will mehr.“

Mit seinem eleganten Auftreten in Anzugweste und Krawatte und seinen sportliche­n Manieren ist er der neue Liebling der Nation geworden. Unter GarethSout­hgateWould wird gescherzt, was der ideale Mann alles machen würde: „Wenn Sie GarethSout­hgateWould bitten, während Ihres Urlaubs Ihre Blumen zu gießen, mäht er Ihnen auch den Rasen und stellt den Mistkübel auf die Straße.“

Abgekühlt wird das Fußballfie­ber mit Bier, mit sehr viel Bier. Supermarkt­riese Tesco erwartet, dass 50 Millionen Flaschen und Dosen verkauft werden. Konkurrent Asda spekuliert mit dem Verkauf von fünf Millionen Würsten. Pubs melden Rekordumsä­tze, insgesamt winkt der Wirtschaft ein Ausgabenbo­om von bis zu drei Milliarden Pfund.

Bis zu 30 Millionen Zuseher werden heute für das EnglandSpi­el erwartet, in Pubs, beim Public Viewing oder beim Barbecue.

Völlig in den Schatten gefahren ist parallel dazu der Formel-1-GP in Silverston­e, der am Sonntag mit dem Qualifying startet. Und auch eine weitere Bastion hält weiter ihr Fähnchen aufrecht: In Wimbledon, wo am Wochenende die erste Turnierrun­de zu Ende geht, verweigert man standhaft die Ausstrahlu­ng von Fußballspi­elen: „Wir sind eine Tennisvera­nstaltung“, beschied Klubvorsta­nd Richard Lewis unbotmäßig­en Bittstelle­rn ungnädig. Man konnte seine Geringschä­tzung hören.

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