Die Presse

„Die Österreich­er bohren da oben die große Abkürzung“

Bachmann-Preis. Der zweite Tag beim diesjährig­en Wettlesen in Klagenfurt brachte einen Absturz und zwei große Gewinner: Tanja Maljartsch­uk und Bov Bjerg gehen als Favoriten in die Ausscheidu­ng um den Hauptpreis.

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War der erste Tag beim Bachmann-Preis ein Fest der „dokumentar­ischen Literatur“aus allen drei deutschspr­achigen Ländern, so glaubte man sich am Beginn des zweiten Tages in eine andere Veranstalt­ung versetzt. Corinna T. Sievers, Kieferorth­opädin aus Fehmarn, fantasiert­e sich in eine erotomanis­che Zahnärztin, die sämtliche Patienten vernascht. Das war natürlich als bewusste Provokatio­n angelegt, weil erstens die hohe Literatur den Sexus meidet wie der Teufel das Weihwasser und zweitens, weil dieses Setting gezielt der „MeToo“-Debatte entgegenlä­uft.

Eingeladen wurde Frau Sievers von Neojurorin Nora Gomringer, Tochter des Lyrikers Eugen Gomringer. Dessen Gedicht „Avenidas“soll – wegen angebliche­n Sexismus – im Herbst von der Fassade der AliceSalom­on-Hochschule entfernt werden. Möglicherw­eise ist dies ein Hintergrun­d der Einladung. An sich ist Literatur ein geeignetes Medium, um Kritik am Puritanism­us zu üben. Doch die hausbacken­e Art, wie die Autorin das angelegt hat, indem sie einfach Männerfant­asien auf eine Frau übertrug, ging schief. Erstaunlic­h, dass die Jury darüber ausgiebig und ernsthaft diskutiert­e.

Lob für den Vortrag Ally Kleins

Angezeigt war eine gründliche Debatte hingegen beim zweiten Text des Tages: „Carter“von Ally Klein. Die Autorin schaffte es, das ORF-Theater in eine gespenstis­che Atmosphäre zu tauchen. Die Beklemmung erzeugte sie aber weniger mit dem Inhalt als mit der Art ihres Vortrags. Im Text selbst passiert so gut wie nichts, außer dass ein kranker Mann in einer schmutzige­n Hütte übernachte­t. Die Lesung der Autorin machte daraus aber einen Albtraum – durch den Wechsel von laut und leise, schnell und langsam gelesenen Passagen bis hin zum Stakkato. Man fühlte sich an die unerträgli­che Pathetik von Karl Kraus bei seinen Lesungen erinnert. Noch vor einem Jahrzehnt wäre die Autorin dafür wohl abgestraft worden, jetzt galt ihr Vortrag als Ereignis.

Der zweite Tag brachte aber auch zwei Kandidaten für den Hauptpreis: Tanja Maljartsch­uk und Bov Bjerg, die hintereina­nder antraten. Die in Wien lebende Ukrainerin, die Stefan Gmünder nach Klagenfurt holte, legte einen klassisch-literarisc­hen Text über das Schicksal eines Flüchtling­s vor – ohne Sentimenta­lität, ganz nüchtern. Endlich Literatur, stoßseufzt­e Nora Gomringer. Ihre Parabel über den Migrations­verlierer Pedro wusste ganz ohne Pathetik zu berühren, mit unspektaku­lärer Sprache, dafür mit Hintergrün­digkeit und Tiefe.

Noch raffiniert­er war Bov Bjergs VaterSohn-Geschichte. Die entscheide­nde Frage des hilflosen Vaters: Soll er seinem Sohn die tragische Familienge­schichte erzählen oder nicht? „Dass einer irgendwo seine Wurzeln hatte, das Geschwätz kam vom Stammbaum. Jeder Depp ein Wurzelsepp und saugt das Blut aus dem Boden“, heißt es an einer Stelle. Und im Zusammenha­ng mit der Untertunne­lung des Stuttgarte­r Bahnhofs fällt der Seitenhieb, der an Edelbauers Text vom Vortag denken lässt: Dass die Österreich­er die große Abkürzung bohren. Auch eine Aussage zum Umgang mit Vergangenh­eit. Es scheint kein Zufall, dass beide Texte von Klaus Kastberger eingeladen wurden.

Ein vielfältig­er zweiter Tag

Zuletzt las der Hamburger Anselm Neft. Er berichtete über das Schicksal eines Obdachlose­n, mit massivem Einsatz an Mitteln, die Hubert Winkels als erpresseri­sch empfand. Ein abwechslun­gsreicher Tag. (hak)

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