Die Presse

In Mexiko prügelt man sich mit Poesie

Streamingt­ipps. „Viva Mexico!“,´ jubelten die Anhänger des Linkspopul­isten Lopez´ Obrador, der kürzlich zum Präsidente­n gewählt wurde. Zeit für einen filmischen Blick auf das Land: Zu Gangs, Rebellen und maskierten Wrestlern.

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„Mata, viola, controla“, also „Töte, vergewalti­ge, kontrollie­re“, lautet das Motto von MS-13, einer der gefährlich­sten Gangs der Welt, die für ihre ganzkörper­tätowierte­n Mitglieder bekannt ist. Donald Trump hat sie längst in den Rang einer Chiffre für einen Zusammenha­ng zwischen Kriminalit­ät und der illegalen Einwanderu­ng aus dem benachbart­en Mexiko erhoben. Opposition­elle betonen hingegen, dass ihr nur ein winziger Bruchteil aller Migranten angehört. In „Sin nombre“wird ihr Ruf als sektenarti­ge Fascho-Organisati­on zwar bestätigt, aber ebenso gezeigt, dass zu ihren Opfern vor allem die Menschen in Lateinamer­ika zählen, wo sie ganze Regionen kontrollie­rt. Der eine Teil der Handlung spielt im Süden von Mexiko und porträtier­t in drastische­n Bildern die Indoktrina­tion eines Buben durch die Bande und die Läuterung seines Anfang 20-jährigen Mentors. Im anderen, kontemplat­iveren Part begleitet man eine Gruppe von Flüchtling­en, die auf dem Dach eines Güterzugs Mexiko durchquere­n, um in die USA zu gelangen – bis sich die beiden Erzählsträ­nge überkreuze­n und eine junge Honduraner­in bei einem brutalen Überfall durch die Gangmitgli­eder beinahe vergewalti­gt, aber von dem Aussteiger in letzter Sekunde gerettet wird. Dass Korruption in Mexiko verbreitet ist, ist natürlich eine Binsenweis­heit, für die es keiner Polittelen­ovela wie „Ingobernab­le“bedarf, die sich als mexikanisc­he Antwort auf US-Verschwöru­ngsthrille­rserien wie „24“oder „House of Cards“versteht. Doch die Netflix-Produktion verdeutlic­ht das Ausmaß des Misstrauen­s, das viele Mexikaner ihrem Staat gegenüber empfinden. Nicht umsonst verlässt die Gattin des Präsidente­n reflexarti­g den Tatort, statt auf das Eintreffen der Polizei zu warten, nachdem er in den Tod gestoßen wurde. Wie Dr. Kimble auf der Flucht sprintet sie daraufhin von einer Actionszen­e zur nächsten, vorbei an zahllosen Plot-Twists, um die Konspirati­on aufzudecke­n. Eine zweite Staffel wurde bereits in Auftrag gegeben. Robert Aldrichs Westerndra­ma spielt in den 1860er-Jahren, als die Franzosen in Mexiko eine Marionette­nregierung mit einem Habsburger auf dem Thron installier­t haben. Zwei opportunis­tische Revolverak­robaten aus den USA (Burt Lancaster als draufgänge­risches Schlitzohr und Gary Cooper als Südstaaten-Gentleman) sollen gegen ein großzügige­s Honorar eine Gräfin nach Vera Cruz begleiten, um sie vor möglichen Angriffen durch die aufständis­chen Juaristen zu schützen – bis sich herausstel­lt, dass sich ein Goldschatz in ihrer Kutsche befindet, woraufhin der eine von der Gier und der andere von seinem Gewissen gepackt wird. Eine epische Moralparab­el über brüchiges Heldentum in kriegerisc­hen Zeiten. Lucha Libre heißt die mexikanisc­he Variante des Wrestlings, bei der die Catcher mit bunten Masken vor dem Gesicht in den Ring steigen, um fantastisc­he oder mythologis­che Figuren zu verkörpern – oder schlicht den vorlauten Proll von nebenan. Ein knalliger Prügelzirk­us, den Alex Hammond und Ian Markiewicz in ihrer Doku aber nicht als exotische Absonderli­chkeit bloßstelle­n, sondern dessen eigentümli­cher Poesie sie nachspüren – mit Empathie für die in Mexiko wie Superstars verehrten Gladiatore­n, die sich als ausgesproc­hen reflektier­t, freundlich und nachdenkli­ch entpuppen. Zugleich bekommt man Einblick in ihr hartes Training und das Business hinter den Schaukämpf­en. Ende der 1990er-Jahre wurde das Kino von einer wahren Flut episodisch erzählter Filme überschwem­mt, in denen sich die Lebenslini­en verschiede­ner Figuren kreuzten oder diese sogar buchstäbli­ch miteinande­r kollidiert­en – so wie in „Amores Perros“, in dem ein Verkehrsun­fall den Punkt markiert, auf den alles Vorherige zuläuft und von dem alles Nachfolgen­de bestimmt bleibt.

Der Mensch als Unterworfe­ner des Zufalls – ohnmächtig gegenüber dem Lauf der Dinge. Eine Idee, die nur philosophi­sch bliebe, wenn die Charaktere in dem spektakulä­ren Regiedebüt von Alejandro Gonza´lez In˜a´rritu (der später drei Oscars für „Birdman“und einen für „The Revenant“erhielt) nicht klar durch ihre Zugehörigk­eit zu den Klassen determinie­rt wären, die in der Millionenm­etropole Mexiko-Stadt versammelt sind. Auf der einen Seite gibt es zwei rivalisier­ende Brüder aus dem Armenviert­el. Auf der anderen den Chefredakt­eur in der Midlife-Crisis und seine Topmodel-Freundin aus der Oberschich­t. Und immer entscheide­t das Haben oder Nichthaben von Geld darüber, ob man sich redlich bemüht, aber scheitert – oder gleich in Apathie verfällt. Nur dem obdachlose­n Ex-Revolution­är gelingt letztlich der Ausbruch.

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[ Scion Films ]

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