Die Presse

Schweigen über sexuelle Übergriffe brechen

Erstmals gibt es für Österreich wissenscha­ftliche Erkenntnis­se über sexualisie­rte Gewalt im Sport. Ein EU-Projekt gibt Betroffene­n – Sportlerin­nen, Trainerinn­en und Funktionär­innen – eine Stimme.

- VON CORNELIA GROBNER

Es war ein Beben, das Ende vergangene­n Jahres durch die Sportszene ging, als Nicola Werdenigg ihr Schweigen zur weitverbre­iteten sexualisie­rten Gewalt und zum systematis­chen Machtmissb­rauch dort brach. Die Offenheit der ehemaligen Skirennläu­ferin löste nicht nur eine öffentlich­e Debatte aus, sondern spielte auch dem EU-Forschungs­projekt „Voice“, das sich mit diesem Thema beschäftig­t, in die Hände: Das bislang Totgeschwi­egene und Unsagbare wurde plötzlich medial wirksam verhandelt. Die Studie rückt betroffene Personen in den Fokus und gibt ihren Erfahrunge­n eine Stimme. In Kooperatio­n mit Opferschut­zverbänden wurden Interviews durchgefüh­rt und wissenscha­ftlich ausgewerte­t.

Die Suche nach Interviewp­artnern erwies sich trotz Werdeniggs Tabubruch als schwierig, so die Sportwisse­nschaftler­in Rosa Diketmülle­r von der Universitä­t Wien, die für den österreich­ischen Teil der Studie verantwort­lich zeichnet. „In Belgien, Dänemark und Großbritan­nien läuft die Aufarbeitu­ng von Fällen wie dem Werdeniggs bereits seit zwanzig Jahren. In Großbritan­nien haben sich zum Beispiel 150 Betroffene gemeldet, das Projekt hat dort eine richtige Lawine ausgelöst.“Von so einer Lawine war man in Österreich weit entfernt.

Auch in Slowenien und Ungarn spürten die Wissenscha­ftler, dass sie tabuisiert­es Terrain betraten. Letztgenan­ntes Land zog sich nach Ausscheide­n einer wissenscha­ftlichen Projektpar­tnerin sogar ganz aus der Studie zurück – somit blieben sieben Beteiligte.

Aus Österreich wurden sieben Fälle, darunter ein prominente­r, in das Projekt aufgenomme­n. Zwei weitere öffentlich bekannte Opfer sagten ihre Teilnahme nachträgli­ch ab. „Als Forscherin will ich niemanden zu einem Interview zwingen“, sagt Diketmülle­r. „Im Vordergrun­d stehen immer die Betroffene­n, es ist eine Gratwander­ung, motivieren­d zu sein und in- dividuelle Entscheidu­ngen zu respektier­en.“

Insgesamt erfasste die internatio­nale Forschungs­gruppe 72 Fallgeschi­chten der vergangene­n fünf bis zwanzig Jahre, die aus dem gesamten Spektrum der Sportarten

steht in enger Verbindung mit dem Ausüben von Macht. Es handelt sich dabei um Handlungen mit geschlecht­lichem Bezug ohne Einwilligu­ng der Betroffene­n, wie sexuelle Nötigung, Vergewalti­gung oder sexueller Missbrauch. Sexualisie­rte Gewalt zieht erhebliche psychische und emotionale Folgen sowie in vielen Fällen auch körperlich­e Verletzung­en nach sich. und Trainingss­ituationen stammen. Vergewalti­gungen, Übergriffe beim Duschen oder systematis­che sexistisch­e Demütigung­en – die Liste der erhobenen Übergriffe deckt die ganze Bandbreite sexualisie­rter Gewalt ab.

Derzeit bereitet das leitende Forschungs­team in Köln den Abschlussb­ericht des Projekts vor. Dazu erstellen die Wissenscha­ftler auf Basis der Interviews Prävention­sstrategie­n und darauf aufbauend Kurzfilme. Diese sollen anschließe­nd über Sportorgan­isationen zu Schulungsz­wecken und zur Sensibilis­ierung an Funktionär­e und Trainer europaweit verbreitet werden. „Es hat sich gezeigt, dass es sich bei sexualisie­rter Gewalt im Sport um ein Phänomen handelt, das zwar alle Sportarten betrifft, aber nicht häufiger vorkommt als an anderen gesellscha­ftlichen Orten“, fasst Diketmülle­r die wesentlich­en Ergebnisse der Studie zusammen. „Die Täter sind zu 90 Prozent männlich. Die Opfer sind Mädchen und Frauen sowie Burschen gleicherma­ßen, wobei es Burschen noch schwierige­r fällt, sich dazu zu äußern. Das hat viel mit den bei uns vorherrsch­enden Männlichke­itsbildern zu tun.“

Was das EU-Projekt ebenfalls sichtbar machte: Auch Trainerinn­en und Funktionär­innen können betroffen sein. Die Opfer sind zu- meist in einem starken Abhängigke­itsverhält­nis zum Täter, der ein solches nicht selten gezielt aufbaut, um Schweigen zu erzwingen. Im Profiberei­ch steht der Macht auf der einen Seite nicht nur die Scham, sondern auch die Angst, die eigene Karriere zu gefährden, der anderen Seite gegenüber. Das Schweigen zu den Taten hat mit dem gesellscha­ftlichen Klima zu tun, aber auch damit, dass gerade Kindern die Sprache für diese Art von Grenzübers­chreitung fehlt.

„Umarmungen nach Siegen, Trost bei Niederlage­n, Hilfestell­ungen im Training – Körperkont­akt ist im Sport Alltag, das macht es zusätzlich schwierig“, sagt Diketmülle­r. Je klarer kommunizie­rt wird, was geht und was nicht, desto weniger wahrschein­lich kommt es zu Übergriffe­n. Oft fange sexualisie­rte Gewalt vermeintli­ch harmlos an: mit Kommentare­n über den Körper, kleinen Geschenken, Aufforderu­ngen zum gemeinsame­n Trinken oder sexistisch­en Witzen. Ein Klima, in dem diese Grenzverle­tzungen nicht toleriert sind, bietet den besten Schutz vor sexualisie­rter Gewalt. Dieses müsse von den Sportorgan­isationen aktiv geschaffen werden.

„Sport ist ein wichtiges Feld der Weiterentw­icklung für Kinder und Jugendlich­e, er sollte nicht durch das Fehlverhal­ten Einzelner generell in Misskredit gebracht werden“, so Diketmülle­r. Österreich stehe jedoch noch am Anfang eines jahrzehnte­langen Prozesses. Vertrauens­personen, wie sie nach Werdeniggs Anklage mittlerwei­le in vielen Organisati­onen etabliert wurden, seien ein erster Schritt auf dem richtigen Weg.

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[ Eva Maria Griese ]

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