Jubiläum – oder nichts?
Mit PC oder Smartphone googelnd, sind wir in der Lage, mit beliebigen Vielfachen von fünf und zehn Jahren „Jubiläen“zu kreieren. Das kann Spaß machen – und sonst? Jubiläumsgetriebene Erinnerungskultur: zur Halbzeit des „Supergedenkjahrs“2018. Von Wolfgang Häusler
Ein kämpferisches Manifest des Wiener Archivars und Historikers Michael Hochedlinger legt sich zur gängigen Erinnerungskultur des „Supergedenkjahrs“1918–2018 quer („Die Presse“, 10. März 2018): „Gedenkliturgie“der „Gewissenswaschanlage“, „Jahrestagskarussell“, „pandemische Jubiläumitis und Gedenkbulimie“, alles in „dichten Kulturweihrauch“gehüllt. Diese Invektive wurzeln tief in der kritischen Tradition der österreichischen Literatur – Karl Kraus, Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek lassen grüßen. Zu diesen Duden-reifen Wortprägungen kommt „jubiläumsgetrieben“hinzu. Wenn ich mich recht erinnere, wurde das Wort in den Debatten im Vorfeld des Hauses der Geschichte Österreich in der Neuen Hofburg 2015 geboren, wohl mit Seitenblick zur so erfolgreichen Schloss Schönbrunn Kultur- und Betriebsges. m. b. H. Ich verantworte diese Diagnose gemeinsam mit Oliver Rathkolb.
Innehalten im „brummenden Getriebe der Jubiläums- und Gedenkindustrie“(Hochedlinger) tut zur Halbzeit des Jahres 2018 not. Was ist überhaupt ein Jubiläum? Der sakrale Begriff wird inflationär und sinnentleert gebraucht: Schon ein Jahr der Präsidentschaft Donald Trumps muss dafür herhalten.
Eine Reise in das sogenannte Heilige Land Israel/Palästina führte mir den Ursprung vor Augen. 27. Dezember 2008: Wir kommen nach den Weihnachtsfeiertagen in Tel Aviv an. Alt-Jaffa wird besichtigt, herrlicher Sonnenuntergang am Meer. Ohne Tel Aviv besucht zu haben, werden wir auf Umwegen spätnachts in einen Kibbuz am See Genezareth gebracht. Unsere kundige Füh- rerin, eine katholische Theologin aus Deutschland, teilt uns beim Frühstück mit, dass die Militäraktion gegen Gaza begonnen habe – die Operation „Gegossenes Blei“sollte bis zum Waffenstillstand am 18. Jänner 2009 1417 Palästinensern, davon 926 Zivilisten, das Leben kosten. Nachts hörten wir das Rollen der Schwerfahrzeuge zum Panzertransport vom Golan nach Süden.
Unsere Reise war dadurch beeinträchtigt – die Silvesternacht in Bethlehem im Hotel des christlich-palästinensischen Reisebüroinhabers ist in ihrer Tragik, mit den im Nebenzimmer laufenden Kriegsberichten, unvergessen. In dieser Situation wurde Nazareth zu einem Schlüsselerlebnis. Nach dem Besuch der griechisch-orthodoxen, mit der Marienquelle verbundenen Gabrielskirche und der von Pilgern überfüllten Verkündigungsgrotte, traten wir – außer Programm – in die Stille der versteckten Synagogenkirche der syrisch-melkitischen Gemeinde ein: Der am intensivsten über Kindheit und Jugend Jesu berichtende Evangelist, Lukas, erzählt im vierten Kapitel, wie Jesus nach der Taufe im Jordan und der Versuchung in der Wüste „in der Kraft des Geistes“in der Synagoge von Nazareth „nach seiner Gewohnheit“lesen will: „Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Kap. 61): ,Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesandt hat, zu verkünden das Evangelium den Armen; er hat mich gesalbt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.‘“
Die Fortsetzung dieser messianischen Provokation ist von geflügelt gewordenen Worten gerahmt: „Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.“Jesus bekräftigt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“In der Gemeinde erhebt sich die Frage: „Ist das nicht Josefs Sohn?“Es fallen die Sprichworte „Arzt, hilf dir selber!“ und „Kein Prophet gilt etwas in seinem Vaterland.“– „Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, um ihn hinabzustürzen“– „aber er ging mitten durch sie hindurch.“
Jubeljahr, schenat hajobel, abgeleitet vom Klang des Widderhorns, ist vielfältig übersetzbar: Gnadenjahr, Freijahr, Vergeltungsjahr, Halljahr, Großes Sabbatjahr des Herrn – die Periode von sieben mal sieben Sabbatjahren gemäß Leviticus 25: „Und ihr sollt das 50. Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen in dem Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder für euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen“, wie der Herr spricht: „Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.“Wir wissen aus dem Codex Hammurabi und der Gesetzgebung Solons in Athen von den Versuchen, die Schuldknechtschaft zu beschränken. Mit Jesaja hielten die Propheten Hosea und Amos den sozialpolitischen Widerspruch gegen Großgrundbesitz und Schuldsklaverei wach. Eine ausbeutungsfreie Gesellschaft wurde zur endzeitlichen Verheißung, das „Heute“zur Zukunftshoffnung als mächtige Triebkraft des „Prinzips Hoffnung“(Ernst Bloch).
Ent-Schuldung also als Kern einer diesseitigen Erlösungsbotschaft. In der römischkatholischen Kirche wurde das Jubeljahr als Heiliges Jahr in die Ablasspraxis der Rompilgerschaft transformiert, seit Bonifaz VIII. im Jahr 1300. Ursprünglich für die Jahrhundertjahre konzipiert, verordnete Klemens VI. 1343 in Avignon die Wiederkehr nach 50 Jahren, Urban VI. 1389 auf 33 Jahre (nach den Lebensjahren Jesu), bis Papst Paul II. 1470 die Periode auf 25 Jahre festlegte. Das Jubeljahr wurde und wird mit feierlichem Hammerschlag an der Porta sancta von St. Peter eröffnet. Papst Franziskus gab mit dem in der Weltkirche begangenen außerordentlichen Jubeljahr der Barmherzigkeit 2015/16 den ursprünglichen Sinn zurück. Die Zeitspanne des Menschenlebens stellt der 90. Psalm vor den Hintergrund der überzeitlichen Präsenz Gottes: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.“– „Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“Dagegen die begrenzte Lebenszeit: „Unser Leben währt 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Plage gewesen.“
In der Numerologie steht die Sieben als Vierzahl der Welt (vier Elemente, Jahreszeiten, Himmelsrichtungen, Erdteile und so weiter) in Beziehung zur göttlichen Dreieinigkeit, gesteigert durch die Zehn als Folge des Rechnens mit den Fingern (und Zehen, die noch im Französischen ins Spiel kommen: Quattre-vingt-treize für 1793). Das Jahrzehnt, griechisch Dekade, lateinisch Dezennium, ist die gängige Einteilung der Lebens- und Geschichtsjahre. Mit dem antiken Steuerwesen hängt das fünfjährige Lustrum zusammen; in diesem Zyklus „perlustrierten“die Zensoren Sitten und Vermögen der Bürger Roms.
Den größeren Zeitrahmen geben die Säkularfeiern Roms, die, bedingt durch Orakel, Omina und politische Rücksichten, etwas mehr als ein Jahrhundert, meist 110 Jahre umfassten, parallel zum 100-jährigen Zentenarium. Das Wort saeculum ist von serere/ säen abgeleitet, ein überschaubarer Teil der Kette der Generationen. Von den Etruskern kam der Brauch, als Zeichen des Beginns eines neuen Zeitabschnitts einen Nagel in die Wand der Cella des Minerva-Tempels auf dem Kapitol einzuschlagen. Das Carmen saeculare des Horaz hält die große Staatsfeier des Augustus (17 vor Christus) fest. Das lateinische saeculum entspricht dem griechischen aion, der die Menschenzeit überhöht, mit der Perspektive zu Weltzeitaltern und Ewigkeit, in der Periodisierung von „Heilsgeschichte und Weltgeschehen“(Karl Löwith).
Als Formel für die Überzeitlichkeit Gottes – in saecula saeculorum (von Ewigkeit zu Ewigkeit) – spannt sich der Begriff von den Psalmen zur Apokalypse, von den Paulusbriefen zur Liturgie der Messfeier als
Was ist ein Jubiläum? Der Begriff wird inflationär gebraucht: Schon ein Jahr der Präsidentschaft Donald Trumps muss dafür herhalten.
Hintergrund des Hier und Jetzt der Gegenwart Christi und zum Tedeum. In merkwürdiger Ambivalenz hat sich Säkularisation seit den konfessionellen Konflikten der frühen Neuzeit für den Übergang von kirchlichem Besitz in protestantische respektive weltliche Hand durchgesetzt: Josephinismus, Französische Revolution und Reichsdeputationshauptschluss entmachteten die Kirche.
Die griechischen Begriffe für Zeitpunkt und Zeitspanne – Epoche und Periode – werden nicht deutlich unterschieden, etwas in Goethes Wort zur Schlacht bei Valmy am 20. September 1792, 20 Jahre später schriftlich festgehalten: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“Es traf sich, dass der Revolutionskalender mit dem Herbstäquinoktium 1792 die Jahreszählung begann.
Das 1000-jährige Millennium entsprang religiöser, endzeitlich-apokalyptischer Erwartung. Der Millenarismus erweckte die utopische Hoffnung einer befreiten Gesellschaft in chiliastischen Bewegungen. Ein Nachklang dieser Bedeutung ist die Projektion des österreichischen Sozialisten Julius Braunthal auf das Rote Wien, „Auf der Suche nach dem Millennium“. Der gnostischchiliastische Begriff wurde vom „Tausendjährigen Reich“der Nationalsozialisten grauenvoll missbraucht (Dietrich Eckart, Arthur Moeller van den Bruck).
In unserer Zeit beschleunigten Wandels scheinen Millennariumsfeiern Halt zu geben: 1976 etwa wurde die meistbesuchte Lilienfelder Babenberger-Landesausstellung (die Dynastie erlosch 1246!) ein vorweggenommenes 1000 Jahre Ostarrˆıchi/Österreich 996/1996 anlässlich der Urkunde für Neuhofen an der Ybbs – mit dem Wiener Millennium-Tower im Gefolge. 1955 war schon mit der Lechfeldschlacht an ein abendländischchristlich-österreichisches Jahrtausend erinnert worden. Für Karl den Großen waren 1200 Jahre im europäischen Erinnerungshorizont maßgebend. 777/1977 war das Stiftergedenken des von ihm gestürzten Baiernherzogs Tassilo in Kremsmünster vorangegangen, aus der Tiefe der Frühzeit gegenwärtig im Tassilo-Kelch.
Ein Geständnis: Ich habe 1985 in die Millennium-Kerbe geschlagen, in einer Geschichte von Böheimkirchen. Auszugehen war von der Erstnennung (als Persnicha nach dem slawischen Flussnamen Perschling) in einem Weistum zur Wiederbegründung der Passauer Besitzrechte. Diese Versammlung ist nach den genannten Personen auf die Jahre 985/991 datierbar; ich machte 985 kühn zum Beginn einer 1000-jährigen Geschichte. Dies brachte dem beschaulichen Markt Böheimkirchen eine Autobahnzu- und -abfahrt mit nachfolgenden Betriebsgründungen – das einzige Mal, dass meine bescheidenen historiografischen Bemühungen praktische Wirkung zeigten . . .
Wer sich je mit historischen Datierungsfragen beschäftigt hat, ist über die rätselhafte Angabe 7/6 bis 4 vor Christus für die Geburt Christi und den Beginn der christlichen Zeitrechnung gestolpert. Diese paradoxe Angabe geht auf den gelehrten Abt Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert zurück. Die Rechnung nach der diokletianischen Ära war misslich, auch wenn man sie (wie noch in der koptischen Kirche) als Ära der Märtyrer deutete, die Berechnungen nach der Erschaffung der Welt waren unpraktisch, und der Wegfall der Konsularjahre machte eine nachvollziehbare Jahreszählung nötig. Die Fehlerquelle liegt in der Zeitspanne zwischen der Machtergreifung Octavians mit der Seeschlacht von Actium (31 vor Christus) und der Errichtung des Prinzipats als Augustus (27 vor Christus). Hinzu kommen, die Ungewissheit betreffend, die Existenz eines Jahres null und Unsicherheit bezüglich des Gründungsjahres von Rom. Die byzantinische Weltära (5508 vor Christus) wurde übrigens in Russland erst unter Peter dem Großen aufgegeben.
Die Schwierigkeiten des Mondkalenders im Judentum und Islam sind wohlbekannt. Den Ostertermin – Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond – zu berechnen, ist so einfach nicht, dies sorgte im Mittelalter für innerkirchlichen Streit. Die Einführung des Gregorianischen Kalenders 1582 wurde von Protestanten und Orthodoxen nur zögerlich angenommen – mit verwirrenden Folgen, dass etwa die russische Revolution vom 25. Oktober am 7. November 1917 stattfand. – Mit (früher) dem Konversations- lexikon und Werner Steins Kulturfahrplan zur Hand oder (heute) mit PC und Smartphone googelnd, sind wir in der Lage, mit beliebigen Vielfachen von fünf und zehn Jahren „Jubiläen“zu kreieren. Das kann Spaß machen – man suche beispielsweise unter 675 und dergleichen halb- und unrunden Jahren. Für urkundliche Erstnennungen, Markt- und Stadterhebungen, auch für Lebensdaten von mehr oder minder bedeutenden Persönlichkeiten lassen sich hier Gedenkjahre ausfindig machen, zum Zweck von Ausstellungen, Briefmarken, Gedenkmünzen et cetera. Und wohl jede(r) kann mit einer 100-jährigen Zeitspanne in der Überlieferung seiner Familie rechnen; bei 200 Jahren zurück schaut es schon anders aus, da können nur Aristokraten mithalten – oder Menschen mit einem (ur)großelterlichen Ahnenpass unseligen Andenkens: „Für die Aufnahme in die NSDAP wird der arische Abstammungsnachweis bis mindestens zum Jahre 1800 gefordert.“
Das Bicentenaire de la Revolution´ francaise¸ 1789, vorbereitet in trikolorer Routine, sah sich unvermutet 1989 mit der Krise im sowjetischen System und dem Fall der Berliner Mauer konfrontiert. Die Probleme des Verhältnisses von bürgerlichdemokratischer und sozialistischer Revolution stellten sich in überraschender Perspektive. Die Erinnerung an den österreichischen Reformabsolutismus, knüpfte mit 1780/1980 an Maria Theresias und Josephs II. Regierungszeit an. 1717/ 2017 wurde Maria Theresia anlässlich des 300. Geburtstages opulent gefeiert; TVSpieldokumentationen missrieten zu peinlichen Seifenopern. Franz Joseph wurde 2016 – paradox angesichts des 100. Todestages – als „Ewiger Kaiser“vermarktet (Nationalbibliothek). Habsburg-Recycling in Permanenz, Sisi als verlässlicher Fremdenverkehrsmagnet. Obendrein zuletzt sensationell: Kaiserurenkel Ferdinand Zvonimir als kleiner Rennfahrer in der Schönbrunner Wagenburg!
Gut merkbar werden die Anniversarien für die im Zehnjahrestakt geborenen Größen Goethe (1749), Schiller (1759) und Napoleon (1769; mit Reenactments seiner Schlachtfelder) abgewickelt.
Nebenbei: Gratulation dem guten Kaiser Franz zum 250. Geburtstag in die 400jährige Kapuzinergruft! Ähnliche Rechenexempel mit Geburts- und Todestagen möge der geneigte Leser für Mozart, Haydn, Beethoven, Grillparzer, Schubert, Nestroy, Stifter, Chopin, Nicolai, Schumann, Liszt, Kleist, Verdi, Wagner, Büchner, Hebbel, Mahler – mit Grazie ad infinitum – durchführen. Der Künstler der Wiener Moderne – Klimt, Schiele, Wagner – gedenken wir zu ihrem Todesjahr 1918. Auch Peter K. Rosegger ist heuer 100 Jahre tot, doch mehr denn je lesenswert, und wir dürfen uns zu Weihnachten 2018 auf 200 Jahre „Stille Nacht“freuen.
In diesem Jahr belebt Karl Marx mit seinem 200. Geburtstag hoffentlich nicht nur den (chinesischen) Fremdenverkehr von Trier, sondern auch die Befassung mit seiner revolutionären Theorie. 1818 ist auch das Geburtsjahr von Sozialreformern wie Raiffeisen und Karl von Vogelsang. Noch einige Geburtstage gefällig? 800. Rudolf von Habsburg, 700. Margarete Maultasch, 350. Johann Lukas von Hildebrandt, 300. Kremser Schmidt, 250. Johann Madersperger, 150. Gräfin Sophie Chotek, Gemahlin des Thronfolgers Franz Ferdinand, 100. Cissy Kraner. Tragisch der 150. Todestag von Siccardsburg und van der Nüll, und überschat- tet vom Tod Victor Adlers der Gründungstag der Republik, 12. November 1918.
Auf der Achterbahn der Geschichte gibt es das echte Jubiläum des vielschichtigen Aufbruchs 1968. 1988 veranstaltete Karl Gutkas eine Tagung zu den Achterjahren der österreichischen Geschichte – das Thema wurde gleichzeitig mit Thomas Bernhards „Heldenplatz“brisant. Ernsthaft: Die politische Erinnerungskultur weist bezeichnende Defizite auf: Die russische Revolution von 1905, die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in Österreich 1907, die jungtürkische Revolution und die folgende Annexionskrise um das 1878 okkupierte Bosnien 1908 wurden nur im Kreis der Fachhistoriker diskutiert.
Nicht einmal der dramatische Sturz Gaddafis rief den italienisch-türkischen Krieg von 1911 (mit den ersten Luftangriffen der Kriegsgeschichte) ins öffentliche Bewusstsein, wie überhaupt die Stationen des alten und neuen Imperialismus mit diskretem Schweigen übergangen wurden. Die nationale Revolution im Iran, die bürgerlichen und sozialen Revolutionen Chinas und Mexikos zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in ihren Folgen für die Gegenwart kaum wahrgenommen. Die Balkankriege wurden nicht als Vorspiel des Weltkriegs analysiert – mit dem für die Gegenwart der Flüchtlingsfrage so folgenschweren pauschalen Missverstehen Südosteuropas. Wolkige Metaphern – „Schlafwandler“, „Büchse der Pandora“, „Urkatastrophe“– traten 1914/2014 an die Stelle der Untersuchung der imperialistischen Triebkräfte des Weltkriegs.
Es ist bezeichnend, dass das für die Aufteilung des Nahen Ostens so folgenschwere Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 nur vom „Kalifen“Abu Bakr al Baghdadi in Erinnerung behalten wurde; das Interesse am vorderasiatischen Kriegsschauplatz, wo Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich an der Seite des Osmanischen Reichs kämpften, erlosch im Westen, je bedrohlicher die Folgen dieser Machtpolitik sichtbar werden. Selbst die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 erhielt wenig Aufmerksamkeit. Nebenbei: 1917 schlug österreichisch-ungarische schwere Artillerie drei Schlachten um Gaza.
Was das österreichische 1918 betrifft – mit den Anfängen der umkämpften, verzweifelten, gescheiterten Republik (so ihre Bezeichnung in den Titeln neuer Bücher), erscheint die Ausblendung ihrer revolutionären Ursprünge im Jännerstreik 1918 und den Arbeiter- und Soldatenräten signifikant. Selbst der Begriff der „österreichischen Revolution“(Otto Bauer, 1923) wird tunlichst vermieden. Wird an Otto Bauers Tod 1938 gebührend erinnert werden? Um die Revolution(en) 1848/49 ist es still; im Konzept des Hauses der Geschichte ist diese grundlegende Voraussetzung der demokratischen Republik kaum präsent. Man darf ferner gespannt sein, inwiefern die Probleme des Dreißigjährigen Krieges für die Gestalt Europas und Österreichs Rolle darin erkannt und vermittelt werden können.
Geschichte ist nicht allein erinnerte Vergangenheit, Gegenstand historischer Forschung, Lehre und Vermittlung, sondern in der Frage nach politischen Weichenstellungen und Alternativen erinnerte Zukunft. Die jüngsten Gedenktage der Befreiung der Konzentrationslager und des Kriegsendes 1945 haben einmal mehr 2018 gezeigt, wie viel an Aufklärungsarbeit zu leisten bleibt. Die Reden von Josef Winkler, Michael Köhlmeier, Doron Rabinovici, Andre´ Heller, Marko Feingold und nicht zuletzt Rudolf Gelbard haben gezeigt, worauf es ankommt: unbeirrbare Suche nach Wahrheit. Geheime Historikerkommissionen und seltsame AntiAntisemiten sind symptomatische Teile der Problematik, nicht die Lösung. Das Gebot, Geschichte zu lernen (Bruno Kreisky), ist nur in staatsbürgerlichen, demokratischen Prozessen realisierbar.
Ich habe auf Jahr und Tag denselben Geburtstag wie Udo Lindenberg: 17. Mai 1946. Er hat mit seinem „Sonderzug nach Pankow“1983 erstarrte Verhältnisse zum Tanzen gebracht. Zu seinem (unserem) Siebziger der Jubelgreise produzierte er das Album „Stärker als die Zeit“. Das ist, meine ich, ein brauchbares Motto für das Erinnern an Geschichte und Denken und Handeln in der Gegenwart.
Ein Geständnis: Auch ich habe schon in die Millennium-Kerbe geschlagen, 1985, in einer Geschichte von Böheimkirchen.