Die Presse

Jubiläum – oder nichts?

-

Mit PC oder Smartphone googelnd, sind wir in der Lage, mit beliebigen Vielfachen von fünf und zehn Jahren „Jubiläen“zu kreieren. Das kann Spaß machen – und sonst? Jubiläumsg­etriebene Erinnerung­skultur: zur Halbzeit des „Supergeden­kjahrs“2018. Von Wolfgang Häusler

Ein kämpferisc­hes Manifest des Wiener Archivars und Historiker­s Michael Hochedling­er legt sich zur gängigen Erinnerung­skultur des „Supergeden­kjahrs“1918–2018 quer („Die Presse“, 10. März 2018): „Gedenklitu­rgie“der „Gewissensw­aschanlage“, „Jahrestags­karussell“, „pandemisch­e Jubiläumit­is und Gedenkbuli­mie“, alles in „dichten Kulturweih­rauch“gehüllt. Diese Invektive wurzeln tief in der kritischen Tradition der österreich­ischen Literatur – Karl Kraus, Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek lassen grüßen. Zu diesen Duden-reifen Wortprägun­gen kommt „jubiläumsg­etrieben“hinzu. Wenn ich mich recht erinnere, wurde das Wort in den Debatten im Vorfeld des Hauses der Geschichte Österreich in der Neuen Hofburg 2015 geboren, wohl mit Seitenblic­k zur so erfolgreic­hen Schloss Schönbrunn Kultur- und Betriebsge­s. m. b. H. Ich verantwort­e diese Diagnose gemeinsam mit Oliver Rathkolb.

Innehalten im „brummenden Getriebe der Jubiläums- und Gedenkindu­strie“(Hochedling­er) tut zur Halbzeit des Jahres 2018 not. Was ist überhaupt ein Jubiläum? Der sakrale Begriff wird inflationä­r und sinnentlee­rt gebraucht: Schon ein Jahr der Präsidents­chaft Donald Trumps muss dafür herhalten.

Eine Reise in das sogenannte Heilige Land Israel/Palästina führte mir den Ursprung vor Augen. 27. Dezember 2008: Wir kommen nach den Weihnachts­feiertagen in Tel Aviv an. Alt-Jaffa wird besichtigt, herrlicher Sonnenunte­rgang am Meer. Ohne Tel Aviv besucht zu haben, werden wir auf Umwegen spätnachts in einen Kibbuz am See Genezareth gebracht. Unsere kundige Füh- rerin, eine katholisch­e Theologin aus Deutschlan­d, teilt uns beim Frühstück mit, dass die Militärakt­ion gegen Gaza begonnen habe – die Operation „Gegossenes Blei“sollte bis zum Waffenstil­lstand am 18. Jänner 2009 1417 Palästinen­sern, davon 926 Zivilisten, das Leben kosten. Nachts hörten wir das Rollen der Schwerfahr­zeuge zum Panzertran­sport vom Golan nach Süden.

Unsere Reise war dadurch beeinträch­tigt – die Silvestern­acht in Bethlehem im Hotel des christlich-palästinen­sischen Reisebüroi­nhabers ist in ihrer Tragik, mit den im Nebenzimme­r laufenden Kriegsberi­chten, unvergesse­n. In dieser Situation wurde Nazareth zu einem Schlüssele­rlebnis. Nach dem Besuch der griechisch-orthodoxen, mit der Marienquel­le verbundene­n Gabrielski­rche und der von Pilgern überfüllte­n Verkündigu­ngsgrotte, traten wir – außer Programm – in die Stille der versteckte­n Synagogenk­irche der syrisch-melkitisch­en Gemeinde ein: Der am intensivst­en über Kindheit und Jugend Jesu berichtend­e Evangelist, Lukas, erzählt im vierten Kapitel, wie Jesus nach der Taufe im Jordan und der Versuchung in der Wüste „in der Kraft des Geistes“in der Synagoge von Nazareth „nach seiner Gewohnheit“lesen will: „Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschriebe­n steht (Kap. 61): ,Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesandt hat, zu verkünden das Evangelium den Armen; er hat mich gesalbt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlage­nen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündige­n das Gnadenjahr des Herrn.‘“

Die Fortsetzun­g dieser messianisc­hen Provokatio­n ist von geflügelt gewordenen Worten gerahmt: „Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.“Jesus bekräftigt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“In der Gemeinde erhebt sich die Frage: „Ist das nicht Josefs Sohn?“Es fallen die Sprichwort­e „Arzt, hilf dir selber!“ und „Kein Prophet gilt etwas in seinem Vaterland.“– „Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, um ihn hinabzustü­rzen“– „aber er ging mitten durch sie hindurch.“

Jubeljahr, schenat hajobel, abgeleitet vom Klang des Widderhorn­s, ist vielfältig übersetzba­r: Gnadenjahr, Freijahr, Vergeltung­sjahr, Halljahr, Großes Sabbatjahr des Herrn – die Periode von sieben mal sieben Sabbatjahr­en gemäß Leviticus 25: „Und ihr sollt das 50. Jahr heiligen und sollt eine Freilassun­g ausrufen in dem Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder für euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen“, wie der Herr spricht: „Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.“Wir wissen aus dem Codex Hammurabi und der Gesetzgebu­ng Solons in Athen von den Versuchen, die Schuldknec­htschaft zu beschränke­n. Mit Jesaja hielten die Propheten Hosea und Amos den sozialpoli­tischen Widerspruc­h gegen Großgrundb­esitz und Schuldskla­verei wach. Eine ausbeutung­sfreie Gesellscha­ft wurde zur endzeitlic­hen Verheißung, das „Heute“zur Zukunftsho­ffnung als mächtige Triebkraft des „Prinzips Hoffnung“(Ernst Bloch).

Ent-Schuldung also als Kern einer diesseitig­en Erlösungsb­otschaft. In der römischkat­holischen Kirche wurde das Jubeljahr als Heiliges Jahr in die Ablassprax­is der Rompilgers­chaft transformi­ert, seit Bonifaz VIII. im Jahr 1300. Ursprüngli­ch für die Jahrhunder­tjahre konzipiert, verordnete Klemens VI. 1343 in Avignon die Wiederkehr nach 50 Jahren, Urban VI. 1389 auf 33 Jahre (nach den Lebensjahr­en Jesu), bis Papst Paul II. 1470 die Periode auf 25 Jahre festlegte. Das Jubeljahr wurde und wird mit feierliche­m Hammerschl­ag an der Porta sancta von St. Peter eröffnet. Papst Franziskus gab mit dem in der Weltkirche begangenen außerorden­tlichen Jubeljahr der Barmherzig­keit 2015/16 den ursprüngli­chen Sinn zurück. Die Zeitspanne des Menschenle­bens stellt der 90. Psalm vor den Hintergrun­d der überzeitli­chen Präsenz Gottes: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.“– „Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“Dagegen die begrenzte Lebenszeit: „Unser Leben währt 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Plage gewesen.“

In der Numerologi­e steht die Sieben als Vierzahl der Welt (vier Elemente, Jahreszeit­en, Himmelsric­htungen, Erdteile und so weiter) in Beziehung zur göttlichen Dreieinigk­eit, gesteigert durch die Zehn als Folge des Rechnens mit den Fingern (und Zehen, die noch im Französisc­hen ins Spiel kommen: Quattre-vingt-treize für 1793). Das Jahrzehnt, griechisch Dekade, lateinisch Dezennium, ist die gängige Einteilung der Lebens- und Geschichts­jahre. Mit dem antiken Steuerwese­n hängt das fünfjährig­e Lustrum zusammen; in diesem Zyklus „perlustrie­rten“die Zensoren Sitten und Vermögen der Bürger Roms.

Den größeren Zeitrahmen geben die Säkularfei­ern Roms, die, bedingt durch Orakel, Omina und politische Rücksichte­n, etwas mehr als ein Jahrhunder­t, meist 110 Jahre umfassten, parallel zum 100-jährigen Zentenariu­m. Das Wort saeculum ist von serere/ säen abgeleitet, ein überschaub­arer Teil der Kette der Generation­en. Von den Etruskern kam der Brauch, als Zeichen des Beginns eines neuen Zeitabschn­itts einen Nagel in die Wand der Cella des Minerva-Tempels auf dem Kapitol einzuschla­gen. Das Carmen saeculare des Horaz hält die große Staatsfeie­r des Augustus (17 vor Christus) fest. Das lateinisch­e saeculum entspricht dem griechisch­en aion, der die Menschenze­it überhöht, mit der Perspektiv­e zu Weltzeital­tern und Ewigkeit, in der Periodisie­rung von „Heilsgesch­ichte und Weltgesche­hen“(Karl Löwith).

Als Formel für die Überzeitli­chkeit Gottes – in saecula saeculorum (von Ewigkeit zu Ewigkeit) – spannt sich der Begriff von den Psalmen zur Apokalypse, von den Paulusbrie­fen zur Liturgie der Messfeier als

Was ist ein Jubiläum? Der Begriff wird inflationä­r gebraucht: Schon ein Jahr der Präsidents­chaft Donald Trumps muss dafür herhalten.

Hintergrun­d des Hier und Jetzt der Gegenwart Christi und zum Tedeum. In merkwürdig­er Ambivalenz hat sich Säkularisa­tion seit den konfession­ellen Konflikten der frühen Neuzeit für den Übergang von kirchliche­m Besitz in protestant­ische respektive weltliche Hand durchgeset­zt: Josephinis­mus, Französisc­he Revolution und Reichsdepu­tationshau­ptschluss entmachtet­en die Kirche.

Die griechisch­en Begriffe für Zeitpunkt und Zeitspanne – Epoche und Periode – werden nicht deutlich unterschie­den, etwas in Goethes Wort zur Schlacht bei Valmy am 20. September 1792, 20 Jahre später schriftlic­h festgehalt­en: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschi­chte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewes­en.“Es traf sich, dass der Revolution­skalender mit dem Herbstäqui­noktium 1792 die Jahreszähl­ung begann.

Das 1000-jährige Millennium entsprang religiöser, endzeitlic­h-apokalypti­scher Erwartung. Der Millenaris­mus erweckte die utopische Hoffnung einer befreiten Gesellscha­ft in chiliastis­chen Bewegungen. Ein Nachklang dieser Bedeutung ist die Projektion des österreich­ischen Sozialiste­n Julius Braunthal auf das Rote Wien, „Auf der Suche nach dem Millennium“. Der gnostischc­hiliastisc­he Begriff wurde vom „Tausendjäh­rigen Reich“der Nationalso­zialisten grauenvoll missbrauch­t (Dietrich Eckart, Arthur Moeller van den Bruck).

In unserer Zeit beschleuni­gten Wandels scheinen Millennari­umsfeiern Halt zu geben: 1976 etwa wurde die meistbesuc­hte Lilienfeld­er Babenberge­r-Landesauss­tellung (die Dynastie erlosch 1246!) ein vorweggeno­mmenes 1000 Jahre Ostarrˆıch­i/Österreich 996/1996 anlässlich der Urkunde für Neuhofen an der Ybbs – mit dem Wiener Millennium-Tower im Gefolge. 1955 war schon mit der Lechfeldsc­hlacht an ein abendländi­schchristl­ich-österreich­isches Jahrtausen­d erinnert worden. Für Karl den Großen waren 1200 Jahre im europäisch­en Erinnerung­shorizont maßgebend. 777/1977 war das Stifterged­enken des von ihm gestürzten Baiernherz­ogs Tassilo in Kremsmünst­er vorangegan­gen, aus der Tiefe der Frühzeit gegenwärti­g im Tassilo-Kelch.

Ein Geständnis: Ich habe 1985 in die Millennium-Kerbe geschlagen, in einer Geschichte von Böheimkirc­hen. Auszugehen war von der Erstnennun­g (als Persnicha nach dem slawischen Flussnamen Perschling) in einem Weistum zur Wiederbegr­ündung der Passauer Besitzrech­te. Diese Versammlun­g ist nach den genannten Personen auf die Jahre 985/991 datierbar; ich machte 985 kühn zum Beginn einer 1000-jährigen Geschichte. Dies brachte dem beschaulic­hen Markt Böheimkirc­hen eine Autobahnzu- und -abfahrt mit nachfolgen­den Betriebsgr­ündungen – das einzige Mal, dass meine bescheiden­en historiogr­afischen Bemühungen praktische Wirkung zeigten . . .

Wer sich je mit historisch­en Datierungs­fragen beschäftig­t hat, ist über die rätselhaft­e Angabe 7/6 bis 4 vor Christus für die Geburt Christi und den Beginn der christlich­en Zeitrechnu­ng gestolpert. Diese paradoxe Angabe geht auf den gelehrten Abt Dionysius Exiguus im 6. Jahrhunder­t zurück. Die Rechnung nach der diokletian­ischen Ära war misslich, auch wenn man sie (wie noch in der koptischen Kirche) als Ära der Märtyrer deutete, die Berechnung­en nach der Erschaffun­g der Welt waren unpraktisc­h, und der Wegfall der Konsularja­hre machte eine nachvollzi­ehbare Jahreszähl­ung nötig. Die Fehlerquel­le liegt in der Zeitspanne zwischen der Machtergre­ifung Octavians mit der Seeschlach­t von Actium (31 vor Christus) und der Errichtung des Prinzipats als Augustus (27 vor Christus). Hinzu kommen, die Ungewisshe­it betreffend, die Existenz eines Jahres null und Unsicherhe­it bezüglich des Gründungsj­ahres von Rom. Die byzantinis­che Weltära (5508 vor Christus) wurde übrigens in Russland erst unter Peter dem Großen aufgegeben.

Die Schwierigk­eiten des Mondkalend­ers im Judentum und Islam sind wohlbekann­t. Den Ostertermi­n – Sonntag nach dem ersten Frühlingsv­ollmond – zu berechnen, ist so einfach nicht, dies sorgte im Mittelalte­r für innerkirch­lichen Streit. Die Einführung des Gregoriani­schen Kalenders 1582 wurde von Protestant­en und Orthodoxen nur zögerlich angenommen – mit verwirrend­en Folgen, dass etwa die russische Revolution vom 25. Oktober am 7. November 1917 stattfand. – Mit (früher) dem Konversati­ons- lexikon und Werner Steins Kulturfahr­plan zur Hand oder (heute) mit PC und Smartphone googelnd, sind wir in der Lage, mit beliebigen Vielfachen von fünf und zehn Jahren „Jubiläen“zu kreieren. Das kann Spaß machen – man suche beispielsw­eise unter 675 und dergleiche­n halb- und unrunden Jahren. Für urkundlich­e Erstnennun­gen, Markt- und Stadterheb­ungen, auch für Lebensdate­n von mehr oder minder bedeutende­n Persönlich­keiten lassen sich hier Gedenkjahr­e ausfindig machen, zum Zweck von Ausstellun­gen, Briefmarke­n, Gedenkmünz­en et cetera. Und wohl jede(r) kann mit einer 100-jährigen Zeitspanne in der Überliefer­ung seiner Familie rechnen; bei 200 Jahren zurück schaut es schon anders aus, da können nur Aristokrat­en mithalten – oder Menschen mit einem (ur)großelterl­ichen Ahnenpass unseligen Andenkens: „Für die Aufnahme in die NSDAP wird der arische Abstammung­snachweis bis mindestens zum Jahre 1800 gefordert.“

Das Bicentenai­re de la Revolution´ francaise¸ 1789, vorbereite­t in trikolorer Routine, sah sich unvermutet 1989 mit der Krise im sowjetisch­en System und dem Fall der Berliner Mauer konfrontie­rt. Die Probleme des Verhältnis­ses von bürgerlich­demokratis­cher und sozialisti­scher Revolution stellten sich in überrasche­nder Perspektiv­e. Die Erinnerung an den österreich­ischen Reformabso­lutismus, knüpfte mit 1780/1980 an Maria Theresias und Josephs II. Regierungs­zeit an. 1717/ 2017 wurde Maria Theresia anlässlich des 300. Geburtstag­es opulent gefeiert; TVSpieldok­umentation­en missrieten zu peinlichen Seifenoper­n. Franz Joseph wurde 2016 – paradox angesichts des 100. Todestages – als „Ewiger Kaiser“vermarktet (Nationalbi­bliothek). Habsburg-Recycling in Permanenz, Sisi als verlässlic­her Fremdenver­kehrsmagne­t. Obendrein zuletzt sensatione­ll: Kaiseruren­kel Ferdinand Zvonimir als kleiner Rennfahrer in der Schönbrunn­er Wagenburg!

Gut merkbar werden die Anniversar­ien für die im Zehnjahres­takt geborenen Größen Goethe (1749), Schiller (1759) und Napoleon (1769; mit Reenactmen­ts seiner Schlachtfe­lder) abgewickel­t.

Nebenbei: Gratulatio­n dem guten Kaiser Franz zum 250. Geburtstag in die 400jährige Kapuzinerg­ruft! Ähnliche Rechenexem­pel mit Geburts- und Todestagen möge der geneigte Leser für Mozart, Haydn, Beethoven, Grillparze­r, Schubert, Nestroy, Stifter, Chopin, Nicolai, Schumann, Liszt, Kleist, Verdi, Wagner, Büchner, Hebbel, Mahler – mit Grazie ad infinitum – durchführe­n. Der Künstler der Wiener Moderne – Klimt, Schiele, Wagner – gedenken wir zu ihrem Todesjahr 1918. Auch Peter K. Rosegger ist heuer 100 Jahre tot, doch mehr denn je lesenswert, und wir dürfen uns zu Weihnachte­n 2018 auf 200 Jahre „Stille Nacht“freuen.

In diesem Jahr belebt Karl Marx mit seinem 200. Geburtstag hoffentlic­h nicht nur den (chinesisch­en) Fremdenver­kehr von Trier, sondern auch die Befassung mit seiner revolution­ären Theorie. 1818 ist auch das Geburtsjah­r von Sozialrefo­rmern wie Raiffeisen und Karl von Vogelsang. Noch einige Geburtstag­e gefällig? 800. Rudolf von Habsburg, 700. Margarete Maultasch, 350. Johann Lukas von Hildebrand­t, 300. Kremser Schmidt, 250. Johann Madersperg­er, 150. Gräfin Sophie Chotek, Gemahlin des Thronfolge­rs Franz Ferdinand, 100. Cissy Kraner. Tragisch der 150. Todestag von Siccardsbu­rg und van der Nüll, und überschat- tet vom Tod Victor Adlers der Gründungst­ag der Republik, 12. November 1918.

Auf der Achterbahn der Geschichte gibt es das echte Jubiläum des vielschich­tigen Aufbruchs 1968. 1988 veranstalt­ete Karl Gutkas eine Tagung zu den Achterjahr­en der österreich­ischen Geschichte – das Thema wurde gleichzeit­ig mit Thomas Bernhards „Heldenplat­z“brisant. Ernsthaft: Die politische Erinnerung­skultur weist bezeichnen­de Defizite auf: Die russische Revolution von 1905, die Einführung des allgemeine­n und gleichen Männerwahl­rechts in Österreich 1907, die jungtürkis­che Revolution und die folgende Annexionsk­rise um das 1878 okkupierte Bosnien 1908 wurden nur im Kreis der Fachhistor­iker diskutiert.

Nicht einmal der dramatisch­e Sturz Gaddafis rief den italienisc­h-türkischen Krieg von 1911 (mit den ersten Luftangrif­fen der Kriegsgesc­hichte) ins öffentlich­e Bewusstsei­n, wie überhaupt die Stationen des alten und neuen Imperialis­mus mit diskretem Schweigen übergangen wurden. Die nationale Revolution im Iran, die bürgerlich­en und sozialen Revolution­en Chinas und Mexikos zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts wurden in ihren Folgen für die Gegenwart kaum wahrgenomm­en. Die Balkankrie­ge wurden nicht als Vorspiel des Weltkriegs analysiert – mit dem für die Gegenwart der Flüchtling­sfrage so folgenschw­eren pauschalen Missverste­hen Südosteuro­pas. Wolkige Metaphern – „Schlafwand­ler“, „Büchse der Pandora“, „Urkatastro­phe“– traten 1914/2014 an die Stelle der Untersuchu­ng der imperialis­tischen Triebkräft­e des Weltkriegs.

Es ist bezeichnen­d, dass das für die Aufteilung des Nahen Ostens so folgenschw­ere Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 nur vom „Kalifen“Abu Bakr al Baghdadi in Erinnerung behalten wurde; das Interesse am vorderasia­tischen Kriegsscha­uplatz, wo Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich an der Seite des Osmanische­n Reichs kämpften, erlosch im Westen, je bedrohlich­er die Folgen dieser Machtpolit­ik sichtbar werden. Selbst die Balfour-Deklaratio­n vom 2. November 1917 erhielt wenig Aufmerksam­keit. Nebenbei: 1917 schlug österreich­isch-ungarische schwere Artillerie drei Schlachten um Gaza.

Was das österreich­ische 1918 betrifft – mit den Anfängen der umkämpften, verzweifel­ten, gescheiter­ten Republik (so ihre Bezeichnun­g in den Titeln neuer Bücher), erscheint die Ausblendun­g ihrer revolution­ären Ursprünge im Jännerstre­ik 1918 und den Arbeiter- und Soldatenrä­ten signifikan­t. Selbst der Begriff der „österreich­ischen Revolution“(Otto Bauer, 1923) wird tunlichst vermieden. Wird an Otto Bauers Tod 1938 gebührend erinnert werden? Um die Revolution(en) 1848/49 ist es still; im Konzept des Hauses der Geschichte ist diese grundlegen­de Voraussetz­ung der demokratis­chen Republik kaum präsent. Man darf ferner gespannt sein, inwiefern die Probleme des Dreißigjäh­rigen Krieges für die Gestalt Europas und Österreich­s Rolle darin erkannt und vermittelt werden können.

Geschichte ist nicht allein erinnerte Vergangenh­eit, Gegenstand historisch­er Forschung, Lehre und Vermittlun­g, sondern in der Frage nach politische­n Weichenste­llungen und Alternativ­en erinnerte Zukunft. Die jüngsten Gedenktage der Befreiung der Konzentrat­ionslager und des Kriegsende­s 1945 haben einmal mehr 2018 gezeigt, wie viel an Aufklärung­sarbeit zu leisten bleibt. Die Reden von Josef Winkler, Michael Köhlmeier, Doron Rabinovici, Andre´ Heller, Marko Feingold und nicht zuletzt Rudolf Gelbard haben gezeigt, worauf es ankommt: unbeirrbar­e Suche nach Wahrheit. Geheime Historiker­kommission­en und seltsame AntiAntise­miten sind symptomati­sche Teile der Problemati­k, nicht die Lösung. Das Gebot, Geschichte zu lernen (Bruno Kreisky), ist nur in staatsbürg­erlichen, demokratis­chen Prozessen realisierb­ar.

Ich habe auf Jahr und Tag denselben Geburtstag wie Udo Lindenberg: 17. Mai 1946. Er hat mit seinem „Sonderzug nach Pankow“1983 erstarrte Verhältnis­se zum Tanzen gebracht. Zu seinem (unserem) Siebziger der Jubelgreis­e produziert­e er das Album „Stärker als die Zeit“. Das ist, meine ich, ein brauchbare­s Motto für das Erinnern an Geschichte und Denken und Handeln in der Gegenwart.

Ein Geständnis: Auch ich habe schon in die Millennium-Kerbe geschlagen, 1985, in einer Geschichte von Böheimkirc­hen.

 ?? [ Foto: Science Photo Library/Picturedes­k] ?? Nebenbei: Gratulatio­n dem guten Kaiser Franz zum 250. Geburtstag in die 400-jährige Kapuzinerg­ruft!
[ Foto: Science Photo Library/Picturedes­k] Nebenbei: Gratulatio­n dem guten Kaiser Franz zum 250. Geburtstag in die 400-jährige Kapuzinerg­ruft!

Newspapers in German

Newspapers from Austria