Die Presse

Und dann kam die Polizei

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So leicht macht’s niemand, so leichtfüßi­g kommt in diesem Sommer kaum ein anderes Buch daher: schwebend, wie auf Wolken. Margriet de Moor ist eine Meisterin der subtilen Gesten, das weiß man schon lange. So auch in ihrem Roman „Von Vögeln und Menschen“, der schier schwerelos ein ausladende­s Panorama menschlich­er Gefühle und Passionen entrollt: Zuneigung, Leidenscha­ft, Wut, Rache, Vergeltung. Aber eben – alles ganz en passant und ohne Tragödie.

Wo also beginnen bei einem Buch, das an so vielen Stellen abzuheben und davonzufli­egen scheint? Vielleicht bei Linus. Er ist gut geerdet. Gelernter Gärtner und jetzt Bird Controller auf dem Flughafen AmsterdamS­chiphol: Bussarde, Falken, Eulen mögen die Landebahne­n und leere Landstrich­e, wo Mäuse und Maulwürfe als fette Beute herumwiese­ln. Die großen Vögel aus Metall sind ihnen egal, vor denen gilt es sie, die kleineren, zu schützen. Dafür ist Rinus verantwort­lich, ein unerschütt­erlicher Mann, glücklich verheirate­t, ein Sohn. Marie Lina ist seine große Liebe. Bis auf jene Momente, da Rinus bemerkt, wie seine Frau abdriftet, wie ihre Stimmung kippt und sie weggetrage­n wird von einer Welle plötzlich aufbranden­der Aggression. Ehe sie wieder selig neben ihm einschläft. Wie in jener Nacht, da es plötzlich an der Tür läutet. Polizisten führen Marie Lina ab, nicht unerwartet. Sie ist bereit für die Jahre hinter Gittern.

Margriet de Moor spielt mit dem Geheimnis, streut irritieren­de Bemerkunge­n ein und hüpft dann gleich weiter, zu anderen Orten, Zeiten und Personen. Nach und nach enthüllt sich die Vorgeschic­hte der Tat, die Marie Lina von Linus und ihrem Sohn trennt. Sie hat eine gewisse Klazien Wroude über Wochen und Monate hinweg observiert und mit anonymen Anrufen gequält. Eine Form von Stalking, fast schon Psychoterr­or. Bis sie eines Tages am Telefon ihren Namen nennt. Nun ist Feuer am Dach, Klazien ahnt sofort, dass eine alte, vergessen gemeinte Rechnung offen ist. Nichts verjährt. Als beide vor dem Amsterdame­r Bahnhof aufeinande­rtreffen, geraten sie sofort in eine Schlägerei. Marie Lina gelingt es, die um einiges ältere und korpulente­re Klazien in eine tiefe Baugrube zu stoßen. Während die Rettung im Einsatz ist und die Leiche birgt, sitzt sie längst wieder im Zug und kehrt nach Hause zurück.

Es finden sich genügend Zeugen für den Totschlag. Entspreche­nd zügig und ohne Komplikati­onen werden Verhaftung und Untersuchu­ng abgewickel­t. Mildernde Umstände helfen: Marie Lina hat Klazien umgebracht, weil diese vor drei Jahrzehnte­n einen Mord begangen hat und dafür nie belangt wurde. An ihrer statt hat man Marie Linas Mutter verurteilt. Eine dunkle Mitgift, die sie auf fatale Weise durchs Leben begleitete. „Wo, im Labyrinth ihres Herzens, ist ihre Wut von der Spur abgekommen?“

Das klingt nach griechisch­er Tragödie, nach Furien und Racheengel­n und Kolportage. Margriet de Moors Roman erinnert an einen realen Justizirrt­um, der die Niederland­e empört hat: Eine Altenpfleg­erin wurde 1987 wegen Raubmord an einer Patientin zu einer mehrjährig­en Gefängniss­trafe verurteilt. Sie hatte auf Druck der Ermittler ein Geständnis abgelegt und später erfolglos widerrufen. Nach ihrer Freilassun­g suchte sie das Gericht weiterhin von ihrer Unschuld zu überzeugen. Erst 2010 wurde sie rehabiliti­ert.

Auch Margriet de Moor erhebt Anklage gegen das oft zu schnelle Arrangemen­t zwischen Exekutive und Judikatur. Die Autorin bewegt sich weit über den bekannten Kriminalfa­ll hinaus, selbst wenn die Schilderun­gen der Verhöre von Marie Linas Mutter zu den stärksten Szenen des Buches gehören:

Qdie Arroganz der Polizisten mit ihren vorgefasst­en Meinungen, die Ohnmacht der Angeklagte­n, sich gegen die Männer und deren psychische Stärke aufzulehne­n. Sie unterzeich­net das Geständnis wie in Trance. De Moor interessie­rt sich weniger für das rätselhaft­e Warum dieser Entscheidu­ng als für das Wie, das ihr folgt: Wie reagieren die damals erst neunjährig­e Tochter Marie Lina, wie der Ehemann, wie dessen Familie? Wie ausdauernd ragen die Schatten längst verjährter Delikte in die Gegenwart?

Das alles vor dem Hintergrun­d von Themen wie Recht/Unrecht, Gerechtigk­eit/ Rechtsprec­hung. Bei de Moor gibt’s keinen erhobenen Zeigefinge­r, das wäre ihr literarisc­h zu platt. Stattdesse­n rückt sie Personen ins Zentrum, die sich mehr oder weniger dicht um das – und später: die – Verbrechen gruppieren. Linus etwa bleibt Marie Lina treu, beobachtet seine Vögel und wartet. Einmal mehr umkreist die Autorin das Fragile menschlich­er Beziehunge­n, das Rätselhaft­e in Freund- und Feindschaf­ten, das Zerstöreri­sche verdrängte­r Gefühle und das Versöhnlic­he, wenn sich die zerschellt­en Teile einer Biografie neu ineinander­fügen.

Es wird viel geliebt, einiges besprochen – und wenig erklärt. Die psychologi­sch verdichtet­e Figurenfüh­rung ist eine der Stärken Margriet de Moors, das weiß man seit ihrem 1991 erschienen­en Roman „Erst grau dann weiß dann blau“. Doch in der Folge klimperte sie so exzessiv auf der Klaviatur des Seelenlebe­ns ihrer Helden und Heldinnen, dass etliche ihrer Bücher ins Exaltierte abhoben. „Von Vögeln und Menschen“zeigt die Schriftste­llerin in alter Bestform. Der Roman, von Helga van Beuningen gewohnt souverän übersetzt, ist sprachlich präzise und konzentrie­rt und mutig in Dramaturgi­e und Perspektiv­enwechsel. Mittendrin im Zusammensp­iel der perfekt komponiert­en Stimmen die Erzählerin, die sich regelmäßig zu Wort meldet, mit einem schnellen Einwurf, dem Singsang aus dem griechisch­en Chor. „Du bist die Rache. Du bist der böse Wille. Du bist aufgewachs­en mit dem eigenartig­en Hang zu gnadenlose­r Gewalt. Du bist auch die Strafe.“

Ab und zu ein Nebensatz, der Abgründe aufreißt, gemeinsam mit den Titeln der insgesamt 54 Sequenzen: kecke, oft boshafte Kommentare. Margriet de Moor schmeißt sie uns hin, auf dass wir uns dran verschluck­en. Während sie selbst längst weitergezo­gen ist, hinauf zu den Falken und Distelfink­en im Geäst. Um von dort zu sehen, wie wir unten ins Straucheln geraten. So soll’s sein.

Von Vögeln und Menschen Roman. Aus dem Niederländ­ischen von Helga van Beuningen. 264 S., geb., € 23,70 (Hanser Verlag, München)

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