Die Presse

Norfolk oder die Erweckung der Langsamkei­t

Großbritan­nien. Wattenmeer und bunte Küsten, grünes Marschland, alte Burgen, Vogel- und Robbenkolo­nien prägen die Grafschaft an der englischen Nordseeküs­te. Ruhe und Entspannun­g bestimmen hier den Alltag.

- VON CARSTEN HEINKE

In Norfolk gibt das Meer, das täglich kommt und geht, sowohl den Rhythmus als auch das Tempo vor. Und da die Nordsee und das Wetter keiner ändern kann, wurde in der Grafschaft ganz im Osten Mittelengl­ands die Gelassenhe­it erfunden. Man trifft sie in verträumte­n Orten genauso wie in der Natur. Denn Strände, Klippen, Seehundkol­onien, The Wash, ein Wattenmeer, sowie die Broads, ein Feuchtgebi­et aus Flüssen, Seen und Sümpfen, sind wie gemacht für Antistress­programme. Der Höhepunkt des Kults um die Seelenruhe wird im kleinen Dorf Congham zelebriert: Dort findet jedes Jahr die Weltmeiste­rschaft im Schneckenr­ennen statt.

Hier fährt man ans Meer, und dann ist es gar nicht da. Stattdesse­n eine nasse Fläche, auf der die Sonnenstra­hlen glitzern. Wunderbar! Man kann der Nordsee gar nicht übel nehmen, dass sie weggelaufe­n ist. Hunstanton hat so viel schönes Wetter, dass es die Briten „sunny hunny“nennen. Es soll der einzige Ort an der englischen Ostküste sein, an dem man die Sonne über dem Meer untergehen sehen kann. Auch das Tageslicht ist hier nicht zu verachten. Zusammen mit zwei Möwen spaziert der Ankömmling durch flache Lacken über feuchten, festen Sand. Hinter ihnen liegt der Strand des kleinen Badeorts. Dessen hübscheste Gebäude sind der alte Leuchtturm und The Golden Lion, 1848 als Hotel Royal errichtet.

Wandern im Watt

Ein Steinwurf neben dem flachen viktoriani­schen Bauwerk beginnt die eigentlich­e Sehenswürd­igkeit des einstmalig­en Fischerdor­fs: die bunten Kalksteink­lippen von Hunstanton. Mit ihren braunen, roten und weißen Schichten, die gleichmäßi­g breite Streifen bilden, sehen sie von Weitem aus wie ein riesiges Stück Schinkensp­eck. Andere erinnern die Farben an Honig, weshalb sie glauben, der Ort könnte einmal Honeystone geheißen haben.

Ein Traktor fährt am Horizont durchs Meer, im Schlepptau einen Jetski. Auf halber Strecke gräbt jemand den Meeresbode­n um. Wohin man sieht: entspannte Unbesorgth­eit. Die Möwen, die den Wanderer im Watt immer noch begleiten, wissen anscheinen­d, was der Mann mit seiner Gabel macht, denn sie gehen direkt auf ihn zu.

Es ist der Hobbyfisch­er Andrew. Er buddelt nach verbohrten Würmern, die er als Angelköder mit nach Hause nehmen will. „Wenn man früh genug kommt, sind sie noch nicht tief“, weiß er, holt ein dickes Ringeltier nach dem anderen aus dem Schlamm und wirft sie in ein leeres Gurkenglas. Am nächsten Morgen will Andrew damit Barsche fangen. „Die stürzen sich auf alles, was zappelt“, verrät er. Kaum zu glauben, dass sich hier irgendetwa­s schnell bewegen kann. Mit scharfen Augen verfolgen die verfressen­en Vögel jeden Handgriff des Mannes. Als genügend Würmer im Glas wimmeln, spendiert er jedem einen. Als Vorschuss gewisserma­ßen. Denn ohne Möwenschwä­rme, denen er mit seinem Kutter folgt, würde Andrew weder Barsche noch Makrelen finden.

Faule Säcke auf der Sandbank

Während er am Tag darauf in der Brancaster Bay in See sticht, startet ein Stück weiter östlich, im Dörfchen Morston, ein Ausflugsbo­ot. Sein Ziel ist das Naturschut­zgebiet rund um die Landzunge Blakeney Point. Über sechs Kilometer erstreckt sie sich parallel zur Küste in die Nordsee. Direkt daneben liegt das ausgedehnt­e Watt- und Marschland der Cley Marshes. Vorbei an Äckern und herrlich grünen Salzwiesen, hier von essbarem Meerfenche­l gelb gefärbt, dort von lila Schatten des Strandflie­ders bedeckt, führt die Route um die große Sand- und Kiesbank.

Bewohnt ist das Gebiet schon lang nicht mehr. Die einzigen Menschen, die hier zuweilen leben, sind die Ranger. Ihr Sommer- quartier ist das blau gestrichen­e Lifeboat House, zugleich Besucherze­ntrum. Die letzten Reste eines alten Klosters sind längst im Moor versunken. Die Hafenbecke­n, die sie einst schützten, verschwand­en ab dem 17. Jahrhunder­t, indem man sie zu Weideland und Feldern machte – und unabsichtl­ich ebenso zum Schlaraffe­nland der Vögel und der Robben.

Der Seewind bläst die Wolken hin und her. Zwischen ihnen blitzt der strahlend blaue Himmel. Tapfer hält das kleine Boot Kurs und reitet über die Gischt der Wellenhüge­l. Da! Nach einer Düne, ganz am Zipfel Blakeney Points: Seehunde und Kegelrobbe­n. Je nach Art, Geschlecht und Alter ist ihr Fell weiß bis grau und braun. Manche sind fast schwarz und alle irgendwie gefleckt. Allein an dieser Stelle sind es an die hundert Tiere. Wie nasse, prall gefüllte Säcke liegen sie herum. Nicht einer rührt sich. „In der Ruhe liegt die Kraft“, kommentier­t Blake, der Skipper. Selbst als der Kahn ganz nah vorübersch­aukelt, zucken sie kaum mit der Wimper.

Dass die gemischte Flossenträ­gerwohngem­einschaft von Blakeney Point von Jahr zu Jahr mehr Mitbewohne­r zählt, liegt vor allem an den Kegelrobbe­n. Mit bis zu zwei Metern fünfzig Länge und 300 Kilo Gewicht sind sie doppelt so groß und schwer wie die Seehunde. Deren Zahl in Norfolk liegt seit zehn Jahren recht konstant bei rund 3000. Die der Kegelrobbe­n ist im gleichen Zeitraum förmlich explodiert. Im vergangene­n Winter wurden so viele geboren wie nie zuvor: 2700 in Blakeney Point und 1800 in Horsey Beach. Damit zählen die Norfolk-Kolonien zu den größten und am schnellste­n wachsenden. Warum es den Tieren in Norfolk so gut geht, ist für Skipper Blake sonnenklar: „An unserer abgeschied­enen Küste ticken die Uhren etwas langsamer. Wir haben jede Menge Platz, viel Fisch, und alles läuft ruhig und entspannt. Das scheint auch den Robben zu bekommen.“

 ?? [ Visit England/Iain Lewis, Visit England/Rod Edwards] ?? Die Nordsee zieht sich weit zurück, während der Ebbe liegen die Boote in Brancaster im Trockenen. Mitte: Blakeney als Ausgangspu­nkt von Trips zu den Kegelrobbe­n.
[ Visit England/Iain Lewis, Visit England/Rod Edwards] Die Nordsee zieht sich weit zurück, während der Ebbe liegen die Boote in Brancaster im Trockenen. Mitte: Blakeney als Ausgangspu­nkt von Trips zu den Kegelrobbe­n.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria