Fußball, Frust und der Druck auf die Sele¸c˜ao
Brasilien. Fußballfreuden und Politikprobleme lassen die Emotionen hochgehen. Urlauber werden unweigerlich mitgerissen – ein Wechselbad.
Nichts geht mehr. Alles steht. Wie schon so oft in den vergangenen Wochen. Schuld sind nun nicht die streikenden Lastwagenfahrer, sondern die Selec¸ao.˜ Während Brasiliens Nationalelf im etwa 14.000 Kilometer entfernten Russland bei der Copa den Schaden nach der 7:1-Misere gegen Deutschland bei der Heim-Weltmeisterschaft vor vier Jahren gutmachen will, wird sechs Zeitzonen entfernt in Rio de Janeiro gebangt, gezittert und gehofft.
Spielt Brasilien um den goldenen Pokal, ist Brasilien normalerweise im Ausnahmezustand: Fast jeder der 208 Millionen Einwohner wird zum Fußballfan. Nicht selten werden Büroangestellte vor Spielbeginn freigestellt. Supermärkte sind bei Anpfiff menschenleer. Mancherorts kommt der öffentliche Verkehr noch vor der Halbzeitpause zum Erliegen. Busse fahren nur sporadisch. Taxifahrer parken am Straßenrand, um das Spiel auf dem Smartphone zu verfolgen. In Restaurants dauert der Service noch länger als für südamerikanische Verhältnisse üblich. Fußball ist König, nicht der Kunde.
Selbst Urlauber, die weder viel mit dem scheinbar alles dominierenden Ballsport am Hut haben oder mit dem runden Leder am Vorfuß umgehen können, fällt es schwer, sich dem Hype um die Rasenartisten zu entziehen. So auch bei dieser Copa: Auf Ilha Grande, dem paradiesischen Vorgarten Rio de Janeiros, ist das Treiben für mehr als 90 Minuten dank einer hitzigen Fußballparty eingefroren. Tagesausflüge aufs Wasser sind gestrichen, Läden sind geschlossen. Pech für Nicht-Fußballanhänger.
Die Inselbewohner tummeln sich bereits vormittags in den Bars mit Bilderbuchaussicht aufs Meer an der Praia do Abraao.˜ Die Blicke sind nur auf die Flachbildschirme gerichtet. Auch auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, auf Praia de Dois Rios, wälzen sich zu Spielbeginn nur wenige Touristen in der Wintersonne. Die KrimskramsVerkäufer stellen ihre Geschäftstätigkeit an den weißen Sandstränden wegen Umsatzmangels ein. Die paradiesische Ruhe am Atlantischen Ozean wird nur von türkisblauen Wellen und Selec¸ao-˜Anhängern unterbrochen.
Nur zaghaft ist mit den ersten Erfolgen des Fünffachweltmeisters der Fußballpatriotismus in die Straßen des heißblütigen Landes, das von Samba und politischen Revolten bestimmt wird, zurückgekehrt. In Sao˜ Paulo, der größten Metropole Südamerikas, muss nach der Fußballparty gesucht werden. Die glühenden Futebol- Anhänger der 13-Millionen-Einwohner-Stadt rotten sich im Ausgehviertel Vila Madalena in der Rua Aspicuelta in Bars zusammen. Nach Spielende steigt dort die Straßenfeier. Das hektische und unordentliche Zentrum quillt mit Fanartikeln in den Nationalfarben über. Straßenhändler locken mit Shirts, Tröten und Nationalflaggen in Gelb-Grün. Nicht nur für ihr Geschäft ist ein vom Erfolg gekröntes Joga Bonita der millionenschweren Ballartisten notwendig. Die Nation lechzt nach dem BeinaheZusammenbruch der Wirtschaft und der immensen Inflation kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft nach einem Erfolg des Heilsbringers Fußball. Die jüngste Krise hat die sonst so lebensfrohe Laune der Brasilianer einfrieren lassen.
Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft Ende Mai formierten sich Fernfahrer über soziale Netzwerke. Sie protestierten mit großem Rückhalt aus der Bevölkerung gegen die hohen Dieselpreise des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras. Beinahe täglich wurden die Preise für Diesel und Benzin angehoben – und für viele nicht mehr leistbar. Die Ärmsten in den Favelas, die fernab der Politik der Weißen ein Schattendasein führen, traf die Preispolitik besonders hart.
Um medienwirksam auf das Problem aufmerksam zu machen, blockierten die Lkw-Fahrer landesweit wichtige Verkehrsadern. Und das in einem Land, das 90 Prozent des Güterverkehrs über die Straße rollen lässt. Das traf den Staat bis ins Mark. Innerhalb weniger Tage war Brasilien lahmgelegt: Tankstellen gingen Gas und Sprudel aus, Verderbliches verschimmelte auf Ladeflächen der Lastwagen, Supermarktregale waren schlagartig leer, Flüge wurden gestrichen.
Die Krise traf jeden: Brasilianer und Besucher. Alle bekamen die Versorgungsengpässe und besonders die schlagartige Überteuerung von Lebens- und Transportmitteln zu spüren. Letztere hält trotz einer politischen Notbremse an: Staatschef Michel Temer ließ den Spritpreis für 60 Tage einfrieren. Damit konnte der vollständige Kollaps und eine drohende Mobilmachung des Militärs verhindert werden. Die Preise an den Tankstellen bleiben trotz der Maß-