Die Presse

Der türkische Sonnenköni­g

Amtsantrit­t. Recep Tayyip Erdo˘gan legt heute, Montag, seinen Amtseid ab: Die Türkei wird ab sofort eine Präsidialr­epublik. Vorher entließ der Staatschef erneut fast 19.000 Polizisten, Soldaten und Beamte.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Wenn Recep Tayyip Erdogan˘ an diesem Montag den Amtseid als türkischer Präsident ablegt, beginnt eine neue Ära in der Geschichte der Türkei: Die Zeremonie in Ankara besiegelt das Ende des parlamenta­rischen Systems und läutet die Epoche der Präsidialr­epublik ein. „Eine neue Türkei wird geboren“, jubelte die regierungs­treue Zeitung „Star“. Noch am Tag seiner Vereidigun­g will Erdogan˘ sein Kabinett vorstellen, das künftig nur ihm verantwort­lich ist.

Der 64-jährige Staatschef verspricht seinen Bürgern mehr Effizienz bei der Regierungs­arbeit, doch die Opposition beklagt den Beginn einer Ein-Mann-Herrschaft ohne wirksame Kontrollin­stanzen. Kritiker sahen sich noch vor der Vereidigun­g in ihren Befürchtun­gen bestätigt: Per Erlass entließ die Regierung am Sonntag erneut fast 19.000 Soldaten, Polizisten und Beamte. Seit dem Putschvers­uch von 2016 sind mehr als 150.000 Menschen wegen angebliche­r Unterstütz­ung für den Umsturzver­such aus dem Staatsdien­st entfernt worden.

Seit Erdogans˘ Wahlsieg vor zwei Wochen bereitet die Regierung den Übergang auf das neue System vor. So löschte ein Erlass aus rund 5000 Gesetzen die Erwähnung des Ministerpr­äsidenten, denn dieses Amt

AUF EINEN BLICK

Wahl. Bei der Präsidente­nwahl am 24. Juni ging Recep Tayyip Erdogan˘ mit 52,59 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Bei der Parlaments­wahl, die gleichzeit­ig stattfand, erhielt Erdogans˘ islamisch-konservati­ve AKP 295 Sitze im Parlament. Im neuen System hat Erdogan˘ deutlich mehr Macht: Er ist zugleich Staatsober­haupt, Regierungs­chef, Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te und Chef der Regierungs­partei AKP. Das Amt des Ministerpr­äsidenten wurde abgeschaff­t. Mindestens drei Vizepräsid­enten kümmern sich um die Leitlinien der von Erdogan˘ festgelegt­en Politik. Das Kabinett wird auf 16 Ministerpo­sten verkleiner­t. wird abgeschaff­t. Befugnisse des bisherigen Premiers werden auf das Präsidente­namt übertragen. Als Mann an der Spitze ist Erdogan˘ ab sofort zeremoniel­les Staatsober­haupt, Regierungs­chef, Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te und Chef der Regierungs­partei AKP in Personalun­ion. Er kann per Dekret regieren, Richterpos­ten vergeben und Minister ernennen und entlassen, ohne das Parlament fragen zu müssen.

Erdogans˘ neue Staatsordn­ung wird in der Presse mit dem Sonnensyst­em verglichen: In der Mitte steht der Präsident, um den sich – den Planeten gleich – Berater, Gremien und Institutio­nen gruppieren. Mindestens drei Vizepräsid­enten kümmern sich um die Leitlinien der von Erdogan˘ festgelegt­en Politik. Das Kabinett wird von 26 auf 16 Ministerpo­sten verkleiner­t, um Reibungsve­rluste zu vermeiden: So sinkt die Zahl der mit der Wirtschaft befassten Ministerie­n von sechs auf drei. Erdogan˘ will mehr wirtschaft­spolitisch­e Entscheidu­ngen selbst fällen – eine Aussicht, die manche Investoren nervös macht, weil der Präsident beispielsw­eise die Unabhängig­keit der Zentralban­k infrage stellt.

Nebeneinan­der ohne klare Abgrenzung

Neben den Ministerie­n existieren neun Beiräte für Bereiche von der Sozial- bis zur Außenpolit­ik, die Vorschläge ausarbeite­n und Berichte erstellen. Acht Direktorat­e – darunter der Generalsta­b der Armee, der Geheimdien­st und der Nationale Sicherheit­srat – fungieren ebenfalls als Ratgeber und Befehlsemp­fänger. Außerdem hat Erdogan˘ noch vier Verwaltung­sabteilung­en zur Verfügung, die sich unter anderem um Personalan­gelegenhei­ten kümmern.

Das Nebeneinan­der von Vizepräsid­enten, Ministerie­n und Beratungsg­remien wirkt auf den ersten Blick verwirrend, zumal bisher keine klare Kompetenza­bgrenzung bekannt ist. Ob und wie das neue System funktionie­rt, wird sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Grundsätzl­ich ist Erdogan˘ aber überzeugt, dass die Präsidialr­epublik mit der „Schwerfäll­igkeit“des parlamenta­rischen Systems Schluss machen werde, wie er vor der Wahl gesagt hat. Der Opposition­spolitiker Abdüllatif Sener, ein früherer Erdogan-˘Berater, spricht dagegen von einer „Diktatur“.

Unklar ist geblieben, wie der Präsident die Posten in seiner neuen Regierung besetzen will. Laut Presseberi­chten könnten erfolgreic­he Geschäftsl­eute zu Ministern ernannt werden – eine Bestätigun­g durch das Parlament ist nicht nötig. Einer der Namen, die genannt werden, ist der von Muhtar Kent, dem früheren Chef des Weltkonzer­ns Coca-Cola. Die Frage ist aber, ob sich internatio­nale Spitzenunt­ernehmer wie Kent einer Regierung unterordne­n wollen, in der allein Erdogan˘ bestimmt.

Wer wird Außenminis­ter?

Ob Außenminis­ter Mevlüt C¸avus¸og˘lu im Amt bleibt, ist ebenfalls ungewiss. In der Presse wird Erdogans˘ bisheriger Sprecher, ˙Ibrahim Kalın, als aussichtsr­eicher Kandidat für das Außenamt genannt. Der 46-jährige Kalın ist ein früherer Berater Erdogans˘ und Experte für die Beziehunge­n zwischen der islamische­n Welt und dem Westen. Fest steht, dass für den Außenminis­ter gleich nach seiner Ernennung die erste Auslandsre­ise geplant ist: Der neue Chefdiplom­at begleitet Erdogan˘ am Dienstag bei den traditione­llen Antrittsbe­suchen nach Aserbaidsc­han und in den türkischen Teil Zyperns. Am Mittwoch steht der Nato-Gipfel in Brüssel auf dem Programm.

Eine neue Türkei wird geboren. Jubel in der regierungs­treuen Zeitung „Star“

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