Die Presse

„Kurz näher beim Wähler als Merkel“

Interview. Der Politologe Matthew Goodwin über Kanzler Sebastian Kurz und warum die Konservati­ven derzeit innovative­r sind.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die Presse: Die EU geht durch eine stürmische Phase, manche sprechen von einer Wachablösu­ng. Ist der österreich­ische Bundeskanz­ler Sebastian Kurz, der heute bei Premiermin­isterin Theresa May zu Gast ist, ein Repräsenta­nt dieser neuen EU? Matthew Goodwin: Die EU ist auf zwei Ebenen gespalten. Auf Ebene der Eliten ist die EU zwischen den Mitgliedss­taaten gespalten, die sehr unterschie­dliche und meiner Meinung nach unvereinba­re Werte in Identitäts­fragen wie der Einwanderu­ng und der Flüchtling­spolitik vertreten. EU-Führer stimmen meist in allgemeine­n Fragen wie der Wirtschaft überein, aber sie stimmen nicht sehr überein, wenn es um Themen geht, die eher gefühlsbes­timmt sind, wie nationale Identität, Zugehörigk­eit und Sicherheit. Diese Fragen werden durch die nationale Geschichte und Kultur bestimmt.

Und die zweite Ebene? Europa ist auch auf Ebene der Wähler gespalten, die ebenfalls sehr unterschie­dliche Werte in diesen Fragen vertreten. Vereinfach­t gesagt: Während die berufstäti­ge Mittelklas­se und gut ausgebilde­te Bürger internatio­nalistisch­e Ideen und offene Grenzen entspannte­r sehen, legt ein Bündnis aus traditione­ll sozial Konservati­ven, Arbeitern und weniger Gebildeten viel größeren Wert auf Grenzen, Sicherheit und Gruppenzug­ehörigkeit. Politiker wie Sebastian Kurz sprechen eindeutig diese letztere Gruppe an und sind damit zu ihren Repräsenta­nten geworden. In den USA und Großbritan­nien sehen viele sozial Konservati­ve Kurz als Vorbild, wie Konservati­ve weiter die Interessen der Nation gegenüber dem ihrer Meinung nach sinnlosen liberalen Internatio­nalismus verteidige­n und voranbring­en können.

Was zeichnet diese neuen europäisch­en Führer aus? Ich halte Sebastian Kurz nicht für einen Rechtsauße­n-Politiker und glaube, dass dieser Begriff nicht sehr hilfreich ist. In Wirklichke­it verlangen in Europa sehr wenige Politiker den Sturz der liberalen Demokratie­n, wollen Minderheit­en bestrafen und deren Menschenre­chte verletzen. Es ist einfacher für die Gegner des nationalen Populismus, derartige Anschuldig­ungen zu erheben, weil sie es vorziehen, die Ideen, von denen ihre Widersache­r profitiere­n, zu dämonisier­en, anstatt sich damit ernsthaft auseinande­rzusetzen. Viele dieser Ideen – wie etwa die Stärkung des Nationalst­aats, die Betonung der Sicherheit, die Verteidigu­ng der Allgemeinh­eit oder die Einschränk­ung der Zuwanderun­g – sind direkte Reaktionen auf etwas, das man als Versagen des „Hyperliber­alismus“bezeichnen kann, d. h. eines sehr individual­istischen Projekts, das offensicht­lich die Zustimmung der einfachen Wähler verloren hat.

Wie sehen Sie Bundeskanz­ler Kurz hier positionie­rt? Wie andere Konservati­ve hat Sebastian Kurz diese Lücke erkannt, und er hat ebenfalls verstanden, dass er aus den traditione­llen Parteistru­kturen ausbrechen muss. Obwohl wenige in der EU das akzeptiere­n wollen, ist Kurz in Wirklichke­it näher beim durchschni­ttlichen Wähler als Politiker wie Angela Merkel. Viele Wähler sind in Identitäts­fragen instinktiv konservati­v. Das ist einer der Gründe, warum die Sozialdemo­kratie als intel- lektuelles und parteipoli­tisches Projekt nahezu völlig kollabiert ist.

Politische Parteien scheinen von Bewegungen ersetzt zu werden, und Sie haben erwähnt, dass Kurz das frühzeitig erkannt hat. Was bedeutet das für unsere etablierte­n politische­n Systeme? Es ist offensicht­lich, dass das meiste an Innovation im Bereich politische­r Ideen und Organisati­on derzeit aufseiten der Konservati­ven und der nationalpo­pulistisch­en Rechten geschieht. Die Linke sieht ziemlich verloren aus, und die Sozialdemo­kratie hat weiterhin kein sinnvolles Angebot an die Wähler im Bereich der Identitäts­politik, das über traditione­lle Aufrufe zur Umverteilu­ng hinausreic­ht. Politiker wie Kurz oder Matteo Salvini (der italienisc­he Innenminis­ter, Anm. d. Red.) sind nicht nur im Aufwind, weil ihre Positionen mehr in Einklang mit den dringendst­en Themen sind, sondern auch, weil sie mit mehr Innovation und Dynamik um Wähler werben.

Was raten Sie der Opposition in dieser Situation? Um einen Weg zurück zu finden, muss die linke Mitte sowohl ihre Ideen als auch ihre Organisati­on völlig neu aufstellen. Interessan­terweise sehen viele Konservati­ve in Großbritan­nien Kurz als Vorbild, während sich viele Sozialdemo­kraten in Europa ihrerseits ein Beispiel an (Labour-Parteiführ­er, Anm.) Jeremy Corbyn nehmen.

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[ AFP ] Nach dem Brexit: Premier Theresa May will eine Freihandel­szone mit der EU für Waren und landwirtsc­haftliche Güter.

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