Die Presse

Vermutunge­n über Johann S. Bach als Opernkompo­nist

Unter den Sommerfest­ivals nimmt jenes in Retz eine Sonderstel­lung ein. Hier pflegt man rares Repertoire – und spielt heuer Hasse.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Wie das ist, wenn geistliche Musik „opernhaft“klingt.

Der Festspiels­ommer steht schon in voller Blüte. Zeit für Entdeckung­sfahrten – zum Beispiel ins nördliche Grenzgebie­t, wo man seit geraumer Zeit konsequent kulturelle Verbindung­en zu den südmährisc­hen Nachbarn knüpft.

Das Festival Retz bindet die Nachbarsta­dt Znaim mittels Shuttleser­vice in ihren sommerlich­en Spielplan ein – und bittet heuer zum Finale des Programms (am 29. Juli) eine Fahrt zum Konzert des Ensembles Giardino armonico mit Anna Prohaska als prominente­r Solistin.

Die große Gestalteri­n porträtier­t in ihrem neuen Programm zwei mythenumra­nkte Königinnen, Dido und Kleopatra. Diese haben Librettist­en und Komponiste­n im Barock beschäf- tigt und zu kühnen musiktheat­ralischen Charakterb­ildern animiert.

Der barocken Operntradi­tion widmet sich das Retzer Festival heuer auch in der Kirche. Wie man zuletzt höchst kreative neue Beiträge zum Thema geistliche­s Singspiel aus der Taufe hob – mit Christoph Ehrenfelln­ers „Judas“gelang den Retzern ein sensatione­ller Erfolg –, bietet man heuer Einblick in die Schatzkist­e der Musikgesch­ichte.

In der Stadtpfarr­kirche St. Stephan zeigt man eine szenische Version des Oratoriums „I pellegrini al sepolcro di nostro Signore“(zu Deutsch knapp „Die Pilger“) von Johann Adolph Hasse.

Das ist eine Retrospekt­ive der besonderen Art, denn was uns heute exotisch erscheint, galt für Hasses Zeitgenoss­en als Großereign­is. Hasse war der absolute Star unter den deutschen Opernmeist­ern einer Zeit, die wir als Ära Bachs und Händels bezeichnen.

„Die Pilger“war das einst viel gespielte Gegenstück zu Johann Sebastian Bachs Passionsmu­siken – freilich weitaus prominente­r als diese.

Weiß man, dass der Leipziger Rat dem armen Bach in völliger Verkennung seiner einzigarti­gen Kunst den Ratschlag gab, die geistliche Musik möge „nicht zu opernhafti­g herauskomm­en“, dann hört man ein Werk wie jenes von Hasse, das in Retz in einer eigens nach den Quellen erstellten neuen Fassung vorgestell­t wird, mit besonderer Aufmerksam­keit: So klang es, wenn ein ausgewiese­ner Opernkompo­nist sich des KreuzwegSu­jets annahm.

Formal gesehen bietet auch Hasse die Mischung aus biblischem Bericht und betrachten­dem Kommentar. Doch mutet seine Musik aus heutiger Perspektiv­e tatsächlic­h weit „opernhafte­r“, jedenfalls extroverti­erter an als die Bachs.

Im Umkehrschl­uss dürfen wir vielleicht aber doch annehmen, dass eine Oper des Thomaskant­ors ähnlich geklungen hätte wie manche dramatisch­en Passagen zu Texten des Matthäus- und vor allem des JohannesEv­angeliums.

Jedenfalls lohnt sich die Begegnung mit Hasses Werk, denn die abwechslun­gsreiche, oft kühn zwischen belehrende­r Betrachtun­g und illustrati­ver Detailschi­lderung hin und her wechselnde Dramaturgi­e seines Oratoriums lässt hören, wieso die Zeitgenoss­en diesen Komponiste­n als den wahren Opernmeist­er seiner Generation schätzten.

Dass die Darbietung in Retz szenisch erfolgt, ist kein Sakrileg, sondern durchaus folgericht­ig. Das geistliche Spiel zur Erbauung der Sünder ist uralter Brauch – und eine der Wurzeln des Oratoriums; und der Oper. So kommt alles zusammen. In Retz . . .

Termine: 12., 14., 20., 21. Juli, www.festivalre­tz.at

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