Vermutungen über Johann S. Bach als Opernkomponist
Unter den Sommerfestivals nimmt jenes in Retz eine Sonderstellung ein. Hier pflegt man rares Repertoire – und spielt heuer Hasse.
Wie das ist, wenn geistliche Musik „opernhaft“klingt.
Der Festspielsommer steht schon in voller Blüte. Zeit für Entdeckungsfahrten – zum Beispiel ins nördliche Grenzgebiet, wo man seit geraumer Zeit konsequent kulturelle Verbindungen zu den südmährischen Nachbarn knüpft.
Das Festival Retz bindet die Nachbarstadt Znaim mittels Shuttleservice in ihren sommerlichen Spielplan ein – und bittet heuer zum Finale des Programms (am 29. Juli) eine Fahrt zum Konzert des Ensembles Giardino armonico mit Anna Prohaska als prominenter Solistin.
Die große Gestalterin porträtiert in ihrem neuen Programm zwei mythenumrankte Königinnen, Dido und Kleopatra. Diese haben Librettisten und Komponisten im Barock beschäf- tigt und zu kühnen musiktheatralischen Charakterbildern animiert.
Der barocken Operntradition widmet sich das Retzer Festival heuer auch in der Kirche. Wie man zuletzt höchst kreative neue Beiträge zum Thema geistliches Singspiel aus der Taufe hob – mit Christoph Ehrenfellners „Judas“gelang den Retzern ein sensationeller Erfolg –, bietet man heuer Einblick in die Schatzkiste der Musikgeschichte.
In der Stadtpfarrkirche St. Stephan zeigt man eine szenische Version des Oratoriums „I pellegrini al sepolcro di nostro Signore“(zu Deutsch knapp „Die Pilger“) von Johann Adolph Hasse.
Das ist eine Retrospektive der besonderen Art, denn was uns heute exotisch erscheint, galt für Hasses Zeitgenossen als Großereignis. Hasse war der absolute Star unter den deutschen Opernmeistern einer Zeit, die wir als Ära Bachs und Händels bezeichnen.
„Die Pilger“war das einst viel gespielte Gegenstück zu Johann Sebastian Bachs Passionsmusiken – freilich weitaus prominenter als diese.
Weiß man, dass der Leipziger Rat dem armen Bach in völliger Verkennung seiner einzigartigen Kunst den Ratschlag gab, die geistliche Musik möge „nicht zu opernhaftig herauskommen“, dann hört man ein Werk wie jenes von Hasse, das in Retz in einer eigens nach den Quellen erstellten neuen Fassung vorgestellt wird, mit besonderer Aufmerksamkeit: So klang es, wenn ein ausgewiesener Opernkomponist sich des KreuzwegSujets annahm.
Formal gesehen bietet auch Hasse die Mischung aus biblischem Bericht und betrachtendem Kommentar. Doch mutet seine Musik aus heutiger Perspektive tatsächlich weit „opernhafter“, jedenfalls extrovertierter an als die Bachs.
Im Umkehrschluss dürfen wir vielleicht aber doch annehmen, dass eine Oper des Thomaskantors ähnlich geklungen hätte wie manche dramatischen Passagen zu Texten des Matthäus- und vor allem des JohannesEvangeliums.
Jedenfalls lohnt sich die Begegnung mit Hasses Werk, denn die abwechslungsreiche, oft kühn zwischen belehrender Betrachtung und illustrativer Detailschilderung hin und her wechselnde Dramaturgie seines Oratoriums lässt hören, wieso die Zeitgenossen diesen Komponisten als den wahren Opernmeister seiner Generation schätzten.
Dass die Darbietung in Retz szenisch erfolgt, ist kein Sakrileg, sondern durchaus folgerichtig. Das geistliche Spiel zur Erbauung der Sünder ist uralter Brauch – und eine der Wurzeln des Oratoriums; und der Oper. So kommt alles zusammen. In Retz . . .
Termine: 12., 14., 20., 21. Juli, www.festivalretz.at