Die Gewerkschaft verharrt in der Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts
Der Protest der Gewerkschaft ist verständlich. Allerdings vertritt sie nicht jene, die sie am nötigsten hätten, sondern die ohnehin gut Geschützten.
Die Strategen der sonst gut kalkulierten Politik der Regierung hatten sich diesmal verrechnet. Der Zwölf-Stunden-Tag, so gut er angeblich gemeint war, wurde schlecht kommuniziert und das Gesetz ungenügend vorbereitet. Der Proteststurm der Gewerkschaft ist verständlich, auch wenn sie manches absichtlich missversteht, um ihre Mitglieder besser mobilisieren zu können. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, welche Teilgewerkschaften sich am meisten erregen. Es gibt etwa kaum eine Gruppe, die besser abgesichert und geschützt ist und die mehr Privilegien genießt als die Eisenbahner. Dass ausgerechnet sie gestreikt haben, ist nicht logisch nachvollziehbar, außer, dass ihr Arbeitskampf politisch am meisten wehtut, weil er allgemein spürbar ist.
Bei der ganzen Diskussion, ob nun eine flexiblere Arbeitszeit den Arbeitnehmern oder nur den Arbeitgebern nützt, wurde eines völlig vergessen: Die am meisten betroffene Gruppe, die noch dazu rasant wächst, ist gewerkschaftlich überhaupt nicht vertreten. Es sind die neuen Selbstständigen, die immer öfter nicht freiwillig selbstständig sind, so etwa die zuletzt viel diskutierten Pflegerinnen, die zwei Wochen lang durchgehend Dienst schieben, Tag und Nacht. Sie können über eine Zwölf-Stunden-Diskussion im wahrsten Sinn des Wortes nur müde lächeln. Und anstatt dass man über ihre Arbeitsbedingungen, ihren Schandlohn und die Abzocke der Vermittlungsdienste debattiert hätte, ging es nur um die Kinderbeihilfe, die bekanntlich kein Lohnbestandteil ist. Also Themenverfehlung.
Die Gewerkschaft ist sowohl in ihrer Organisationsform als auch in ihrem Fokus noch immer im 19. Jahrhundert verankert. Die Arbeitswelt hat sich jedoch radikal verändert. Wir haben etwa die Generation Praktikum, die in gar kein reguläres Dienstverhältnis übernommen wird. Wir haben jene, die zu Selbstständigen gemacht werden, damit die Arbeitnehmerschutzbestimmungen nicht greifen. Wir haben jene, die irgendwo auf der Welt tätig sind, wo es kaum Schutzbe- stimmungen gibt oder die meilenweit von unseren Standards entfernt sind. Wenn Sie etwa eine Hotline anrufen, wird in immer weniger Fällen jemand abheben, der innerhalb Österreichs sitzt. Systembetreuer für die Software von Firmen arbeiten von Indien aus. Wie kontrolliert die Gewerkschaft da, ob sie alle nur acht oder zehn Stunden am Stück im Dienst sind?
Es ist wichtig und richtig, dass Arbeitnehmer eine gute und starke Vertretung haben. Nicht immer sind Arbeitgeber fair und wollen das Beste für ihre Mitarbeiter, sondern manche nützen den Rahmen exzessiv aus oder überschreiten ihn öfter. Es ist richtig, dass der Schlüssel die Freiwilligkeit und die Planbarkeit von Mehrarbeit ist, um Privatleben und Erholung zu gewährleisten. Es gibt ja bereits eine Vielzahl von Modellen, die unter diesen Voraussetzungen gut funktionieren. Viele Menschen, die weite Strecken pendeln müssen, sind froh, wenn sie ihre Arbeitszeit blocken können und nicht mehr jeden Tag stundenlang unterwegs sind. Ebenso Eltern, die sich die Kinderbetreuung dann besser ein- und aufteilen können.
Der regelmäßige Acht-StundenTag fünfmal die Woche ist bereits heute nicht mehr die Regel, und das ist nicht nur schlecht, sondern hat auch viele Vorteile. Ihn wiederbeleben zu wollen ist weltfremd. Die Panik vor dem Zwölf-Stunden-Tag stammt aus einer Zeit der frühen Industrialisierung, in der Arbeiter tatsächlich täglich zwölf Stunden arbeiten mussten und gnadenlos ausgebeutet wurden. Aber auch das ist vorbei. Wir haben heute eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen, und die am meisten ausgebeutete Gruppe sind sicher nicht mehr die Arbeiter. Es sind die neuen Selbstständigen. Ein Teil von ihnen beutet sich selbst aus, etwa in künstlerischen Berufen, ein anderer Teil wird zu Unternehmern gemacht, um sie besser ausbeuten zu können. Auf die Gewerkschaft können sie nicht zählen. Leider.