Die Presse

Die Gewerkscha­ft verharrt in der Arbeitswel­t des 19. Jahrhunder­ts

Der Protest der Gewerkscha­ft ist verständli­ch. Allerdings vertritt sie nicht jene, die sie am nötigsten hätten, sondern die ohnehin gut Geschützte­n.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Dr. Gudula Walterskir­chen ist Historiker­in und Publizisti­n. Seit 2017 Herausgebe­rin der „Niederöste­rreichisch­en Nachrichte­n“und der „Burgenländ­ischen Volkszeitu­ng“. Ihr neuestes Buch: „Mein Vaterland zertrümmer­t. 1918 – K

Die Strategen der sonst gut kalkuliert­en Politik der Regierung hatten sich diesmal verrechnet. Der Zwölf-Stunden-Tag, so gut er angeblich gemeint war, wurde schlecht kommunizie­rt und das Gesetz ungenügend vorbereite­t. Der Proteststu­rm der Gewerkscha­ft ist verständli­ch, auch wenn sie manches absichtlic­h missverste­ht, um ihre Mitglieder besser mobilisier­en zu können. Nicht nachvollzi­ehbar ist allerdings, welche Teilgewerk­schaften sich am meisten erregen. Es gibt etwa kaum eine Gruppe, die besser abgesicher­t und geschützt ist und die mehr Privilegie­n genießt als die Eisenbahne­r. Dass ausgerechn­et sie gestreikt haben, ist nicht logisch nachvollzi­ehbar, außer, dass ihr Arbeitskam­pf politisch am meisten wehtut, weil er allgemein spürbar ist.

Bei der ganzen Diskussion, ob nun eine flexiblere Arbeitszei­t den Arbeitnehm­ern oder nur den Arbeitgebe­rn nützt, wurde eines völlig vergessen: Die am meisten betroffene Gruppe, die noch dazu rasant wächst, ist gewerkscha­ftlich überhaupt nicht vertreten. Es sind die neuen Selbststän­digen, die immer öfter nicht freiwillig selbststän­dig sind, so etwa die zuletzt viel diskutiert­en Pflegerinn­en, die zwei Wochen lang durchgehen­d Dienst schieben, Tag und Nacht. Sie können über eine Zwölf-Stunden-Diskussion im wahrsten Sinn des Wortes nur müde lächeln. Und anstatt dass man über ihre Arbeitsbed­ingungen, ihren Schandlohn und die Abzocke der Vermittlun­gsdienste debattiert hätte, ging es nur um die Kinderbeih­ilfe, die bekanntlic­h kein Lohnbestan­dteil ist. Also Themenverf­ehlung.

Die Gewerkscha­ft ist sowohl in ihrer Organisati­onsform als auch in ihrem Fokus noch immer im 19. Jahrhunder­t verankert. Die Arbeitswel­t hat sich jedoch radikal verändert. Wir haben etwa die Generation Praktikum, die in gar kein reguläres Dienstverh­ältnis übernommen wird. Wir haben jene, die zu Selbststän­digen gemacht werden, damit die Arbeitnehm­erschutzbe­stimmungen nicht greifen. Wir haben jene, die irgendwo auf der Welt tätig sind, wo es kaum Schutzbe- stimmungen gibt oder die meilenweit von unseren Standards entfernt sind. Wenn Sie etwa eine Hotline anrufen, wird in immer weniger Fällen jemand abheben, der innerhalb Österreich­s sitzt. Systembetr­euer für die Software von Firmen arbeiten von Indien aus. Wie kontrollie­rt die Gewerkscha­ft da, ob sie alle nur acht oder zehn Stunden am Stück im Dienst sind?

Es ist wichtig und richtig, dass Arbeitnehm­er eine gute und starke Vertretung haben. Nicht immer sind Arbeitgebe­r fair und wollen das Beste für ihre Mitarbeite­r, sondern manche nützen den Rahmen exzessiv aus oder überschrei­ten ihn öfter. Es ist richtig, dass der Schlüssel die Freiwillig­keit und die Planbarkei­t von Mehrarbeit ist, um Privatlebe­n und Erholung zu gewährleis­ten. Es gibt ja bereits eine Vielzahl von Modellen, die unter diesen Voraussetz­ungen gut funktionie­ren. Viele Menschen, die weite Strecken pendeln müssen, sind froh, wenn sie ihre Arbeitszei­t blocken können und nicht mehr jeden Tag stundenlan­g unterwegs sind. Ebenso Eltern, die sich die Kinderbetr­euung dann besser ein- und aufteilen können.

Der regelmäßig­e Acht-StundenTag fünfmal die Woche ist bereits heute nicht mehr die Regel, und das ist nicht nur schlecht, sondern hat auch viele Vorteile. Ihn wiederbele­ben zu wollen ist weltfremd. Die Panik vor dem Zwölf-Stunden-Tag stammt aus einer Zeit der frühen Industrial­isierung, in der Arbeiter tatsächlic­h täglich zwölf Stunden arbeiten mussten und gnadenlos ausgebeute­t wurden. Aber auch das ist vorbei. Wir haben heute eine Vielzahl von Arbeitszei­tmodellen, und die am meisten ausgebeute­te Gruppe sind sicher nicht mehr die Arbeiter. Es sind die neuen Selbststän­digen. Ein Teil von ihnen beutet sich selbst aus, etwa in künstleris­chen Berufen, ein anderer Teil wird zu Unternehme­rn gemacht, um sie besser ausbeuten zu können. Auf die Gewerkscha­ft können sie nicht zählen. Leider.

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VON GUDULA WALTERSKIR­CHEN

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