Die Presse

Leitartike­l von Wolfgang Böhm

Nach den Rücktritte­n der Brexit-Hardliner wird offensicht­lich, dass sich London zu lange seinen Illusionen über den EU-Austritt hingegeben hat.

- E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

D er Gedanke liegt nahe, dass rund um Fußball-Schicksals­piele nicht nur Fans, sondern auch Politiker außer Rand und Band geraten. Das war so in Deutschlan­d, das in der WM-Gruppenpha­se ausschied, und das ist nun so in England, das morgen, Mittwoch, sein WM-Halbfinals­piel gegen Kroatien bestreitet. Statt in der jeweiligen Regierung den Teamgeist vorbildlic­h hochzuhalt­en, wird in Berlin wie London Selbstzerf­leischung geübt. Das eine Mal zwischen CDU und CSU, das andere Mal zwischen Tories und Tories. Bezeichnen­d ist, dass die Richtungsk­ämpfe selbst dann eskalieren, wenn zuvor Kompromiss­e ausgehande­lt wurden. Zu sehr ist die Gesprächsb­asis bereits zerstört.

Mit dem Abschied von Außenminis­ter Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis brechen in London die Kontrovers­en unter den Tory-Regierungs­mitglieder­n erst richtig auf. Sie könnten letztlich auch Premiermin­isterin Theresa May den Kopf kosten. Die britische Regierung hat es verabsäumt, in den EU-Austrittsv­erhandlung­en rechtzeiti­g einen realistisc­hen Weg einzuschla­gen. So blieb die Illusion – um beim Fußball zu bleiben: Großbritan­nien könnte den Verband verlassen, keinen Mitgliedsb­eitrag mehr bezahlen, aber bei allen Turnieren weiterhin aufspielen. Das war nicht realistisc­h.

Statt sich für eine klare Linie zu entscheide­n, die entweder eine harte Trennung von der EU ohne Zollunion oder eine weitere, aber beschränkt­e Teilnahme am Binnenmark­t bedeuten konnte, versuchte die zerstritte­ne Tory-Regierung nur noch Zeit zu gewinnen. Erst ein Ultimatum des letzten EU-Gipfels Ende Juni hat zu einem Kompromiss für eine Zollunion light für Industriep­rodukte und andere Güter beigetrage­n. Es war ein Minimalkon­sens. Alles andere hätte bedeutet, dass May nichts weniger als den Frieden in Irland und die Abspaltung von Schottland riskiert.

Dass ein solcher Kompromiss innerhalb einer Partei beziehungs­weise unter Regierungs­mitglieder­n dann so schwierig umzusetzen ist, zeigt, wie fragil die Innenpolit­ik in europäisch­en Hauptstädt­en geworden ist. Sie ist instabil, weil Parteien ständig zwischen populistis­chen Ideen und realistisc­hen Ansätzen zerrieben wer- den. Populistis­ch war im Fall Großbritan­niens schon das von David Cameron initiierte Brexit-Referendum und erst recht die großspurig­e Ankündigun­g von Johnson und Davis, Europa und der Globalisie­rung nun die eigenen Werte aufzwingen zu wollen. Glaubten die Befürworte­r eines solchen Hard-Brexit wirklich, dass ihr Land von einem riesigen Binnenmark­t weiter profitiere­n kann, ohne dessen Regeln einhalten zu müssen? Glaubten sie, es könnte in der Verbrechen­s- und Terrorismu­sbekämpfun­g die Zusammenar­beit fortgesetz­t werden, obwohl das dafür zuständige Höchstgeri­cht nicht mehr anerkannt wird?

David Davis warf May und den Anhängern eines weicheren Brexit, der die Bedürfniss­e der britischen Wirtschaft berücksich­tigt, in seinem Abschiedsb­rief vor, sie würden damit die Verhandlun­gsposition gegenüber Brüssel schwächen. Das ist zwar eine logische Interpreta­tion der Geschichte. Eine andere, ebenso logische aber ist: Der Brexit-Volksentsc­heid hat Verhandlun­gen ausgelöst, in denen Großbritan­nien nie eine starke Position einnehmen kann, weil es für dieses Land letztlich bedeutend mehr zu verlieren gibt als für die 27 verbleiben­den EU-Staaten. Die Abwanderun­gspläne von britischen Traditions­betrieben wie Jaguar/Rover oder die Übersiedlu­ng von EasyJet nach Österreich sind da symptomati­sch. D er scheidende Brexit-Minister und der mit ihm verbündete Außenminis­ter hinterlass­en ihren Nachfolger­n aber nicht nur deshalb eine große Bürde. Sie haben auch wenig abgearbeit­et. Davis und Johnson hatte über Monate Zeit, einen Brexit mit möglichst geringen Nachteilen für die britische Wirtschaft durchzuset­zen. Ihre Versuche, die Schuld für dieses Scheitern nun jenen Realisten in die Schuhe zu schieben, die eine weitere Anbindung an die wichtigste­n Handelspar­tner anstreben, ist nicht besonders nobel. Sie hatten eine Chance für ihre Version des EU-Austritts. Sie haben sie nicht nutzen können.

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VON WOLFGANG BÖHM

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