Kurz warnt vor Verzögerung des Brexit
Staatsbesuch. Die Brexit-Turbulenzen überschatten den Besuch des österreichischen Bundeskanzlers in London.
London. Es passiert nicht jeden Tag, dass ein österreichischer Bundeskanzler am Amtssitz des britischen Premierministers in 10 Downing Street zu Gast ist. Aber selten war ein Besuch wohl dringlicher als gestern, Montag, als Bundeskanzler Sebastian Kurz am frühen Abend von Regierungschefin Theresa May im Zentrum der politischen Macht Londons empfangen wurde. Im Mittelpunkt der Unterredung konnte angesichts der Turbulenzen der vergangenen Tage nur ein Thema stehen: der Brexit.
Kurz hatte sich am Vorabend in Irland zur neuen, weichen Linie der Briten entgegenkommend geäußert. Man wolle alles tun, um einen harten Austritt Londons aus der EU zu verhindern, meinte er in seiner Funktion als EU-Ratsvorsitzender. Großbritannien wird die EU am 29. März 2019 um Mitternacht mitteleuropäischer Zeit verlassen. „Es gibt einen klaren Zeitplan, und der muss eingehalten werden. Das bedeutet, wir brauchen im Herbst eine politische Einigung“, damit, so Kurz, die nötigen Beschlüsse auf EU- und britischer Seite zeitgerecht getroffen werden können.
Die am vergangenen Freitag von May durchgesetzte Regierungslinie wird von Kurz unterstützt. In den vergangenen Tagen sei „ein großer Schritt vorwärts“gemacht worden, sagte der Bundeskanzler. Es sei nur möglich zu verhandeln, wenn man die Position des Verhandlungspartners kenne.
Gibt es bis Herbst keine Einigung, droht ein wirtschaftliches Chaos. Statt wie bisher durch Zollunion und Binnenmarkt würden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und den EU-27 künftig durch WTO-Regeln bestimmt werden – so wie mit allen anderen Drittstaaten auch. Das will vor allem die britische Industrie verhindern, denn die Wiedereinfuhr von Zöllen und Grenzkontrollen würde sie massiv belasten.
Einigung bis Mitte Oktober
Vor derartigen Versuchen hatte Kurz auch bei seinem bisher letzten Besuch in London im Oktober 2017 als Außenminister bei seinem damaligen Ressortkollegen Boris Johnson gewarnt. Johnson, der gestern überraschend zurücktrat, galt immer als BrexitHardliner. Kurz, der stets um Verständnis für Großbritannien warb, hat aus seiner Zeit als Außenminister aber auch ein enges Arbeitsverhältnis mit seinem früheren britischen Visavis und heutigem Schatzkanzler Philip Hammond, einer treibenden Kraft für einen möglichst weichen Brexit.
Als EU-Ratsvorsitzender wird Österreich in den kommenden Monaten eine entscheidende Rolle für eine Vereinbarung zwischen Brüssel und London zukommen. Kurz selbst nannte den Brexit als eines der Hauptthemen des österreichischen Vorsitzes. Aus Diplomatenkreisen heißt es, dass bis etwa Mitte Oktober eine Einigung stehen muss, um den Prozess fristgerecht ratifizieren zu können. Die Zeit drängt, wie nicht zuletzt EURatspräsident Donald Tusk zuletzt warnte.
Vor seinem Besuch in London besuchte Kurz Montagvormittag die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, die nach dem Brexit zu einer EU-Außengrenze wird. Alle Parteien (London, Dublin und Brüssel) wollen aber die Errichtung einer befestigten Grenze verhindern. Wie das umgesetzt werden kann, ist einer der Knackpunkte in den Verhandlungen. Gegenüber Journalisten betonte auch Kurz, dass eine harte Grenze nach dem Brexit vermieden werden müsse. Sie könnte nämlich auch den Frieden innerhalb Nordirlands stören.
Die Reise nach Irland und Großbritannien war die erste bilaterale, seit Österreich am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Sie ist laut Kurz auch als „klares Unterstützungssignal für Michel Barnier und die Brexit-Verhandlungen“zu verstehen. „Unser Ziel ist es, ihn als EU-Chefverhandler während des Ratsvorsitzes bestmöglich zu unterstützen, um hier alles zu tun, dass in diesen sechs Monaten auch der notwendige Fortschritt im Rahmen der Brexit-Verhandlungen stattfinden kann.“
Nach dem Besuch bei May nimmt Kurz heute, Dienstag, am Westbalkan-Gipfel des britischen Außenministeriums teil. Im Mittelpunkt werden Sicherheitsfragen und die Migration stehen.
Der letzte Bundeskanzler in der Downing Street war übrigens nach Angaben aus diplomatischen Kreisen im Jahr 1990 Franz Vranitzky. Hausherrin war damals Margaret Thatcher. Wie morgen, Mittwoch, in Moskau stand England auch damals im Semifinale einer Fußball-WM. (gar/ag.)
„Es gibt einen klaren Zeitplan, und der muss eingehalten werden.“Bundeskanzler Sebastian Kurz