Interview. Der kanadische Rebell Dave St. Pierre eröffnet das ImPulsTanz-Festival: Warum er die Welt für zu rücksichtsvoll hält, nackt mit blonder Perücke den Leuten Gemeines sagt und seine Krankheit als Teil von sich sieht – ein Gespräch. Nackttanz mit
Die Eröffnung des ImPulsTanz-Festivals ist immer auch ein Statement. 2015 fluteten Doris Uhlich und ihre Nackedeis den Haupthof des Museumsquartiers mit guter Laune und der Überzeugung, dass man keinen Luxuskörper braucht, um sich wohl zu fühlen. 2016 wirkte Maguy Marins Stück „BiT“wie eine düstere Vision, sie nahm die Abgründe sexuellen Missbrauchs vorweg, in die die Gesellschaft im Zuge der MeToo-Debatte kurz darauf blickte. 2017 sorgte Jan Fabre mit Eselsohren und einem Schmusemarathon, der am Damenklo endete, eher für Verwirrung.
2018 wird wieder nackt getanzt: Dave St. Pierre kommt mit seinem Soloprogramm „Neant/´Void“– einem amüsanten, schrägen, nachdenklichen Stück – ans Odeon Theater. Er freut sich auf seinen Wien-Besuch: „Das Erste, was ich machen werde: Ich gehe zum Flohmarkt. Letztes Mal habe ich dort viel Zeit verbracht und viel gekauft. Der ist so wunderbar – da findet man so viele Dinge, die es bei uns nicht gibt.“
2006 regte Nacktheit noch auf
St. Pierre und seine Compagnie sind in Montreal´ beheimatet. In Kanada begann er auch seine Karriere als Tänzer. 2004 gründete er seine eigene Compagnie und startete mit „La Pornographie des ames“ˆ (2004) und „Un peu de tendresse bordel de merde!“(2006) international durch. Nacktheit auf der Bühne war damals noch ein Aufreger. „2006 waren die Leute noch schockiert – aber heute regt das niemanden mehr auf. Heute ist das Mainstream.“Aber Mainstream – das will St. Pierre nun wahrlich nicht sein. „Sie nennen mich einen jungen, rebellischen Choreografen. Aber ich bin 44 und kein Kind mehr. Andererseits kann man natürlich auch mit 44 noch ein Rebell sein.“
Allein die Tatsache, dass er auf der Bühne steht, hat etwas Aufmüpfiges an sich, denn St. Pierre leidet an Mukoviszidose, musste sich vor acht Jahren einer Lungentransplantation unterziehen – und hat dennoch stets versucht, der Krankheit nicht die Oberhand zu überlassen.
„Es ist natürlich wichtig, darüber zu reden, weil es anderen Leute mit dieser Krankheit Mut macht. Andere behaupten, die Krankheit sei das einzige Talent, das ich habe. Oder sie glauben, ich verwende sie zu meinem Vorteil. Aber das stimmt nicht: Sie ist verdammt noch einmal ein Teil von mir. Ich muss jeden Tag damit umgehen, muss früh schlafen gehen, weil ich so müde bin.“Dezidiert zum Thema machen will er sein Handicap in seinen Stücken nicht: „Man muss nicht auf der Bühne über seine Krankheit reden. Ich denke: Sei einfach da und rede, worüber du willst – über die Liebe oder über deinen Ärger über die Welt.“Aber verschweigen kann er das Thema auch nicht: „Ich stehe ja nackt auf der Bühne. Man sieht die große Narbe auf meinem Brustkorb.“
„Die nennen die Besucher Kunden!“
Noch immer haben manche Veranstalter Bedenken, den Tanzrebell zu engagieren. „Die sagen, ihr Publikum wäre nicht bereit für meine Performances. Die sagen, sie verlieren dann Kunden. Die nennen die Besucher Kunden! Aber das sind doch Leute, die ins Theater gehen – die kaufen ja keinen Toaster!“Viele seiner Verträge seien deswegen geplatzt. „Wir leben in einer Welt, in der alle versuchen, die Menschen ja nicht vor den Kopf zu stoßen oder zu schockieren. Aber warum eigentlich nicht?“, fragt St. Pierre.
In „Neant/´Void“schwebt einmal ein aufblasbarer Penis über die Bühne. Es wird also sicher „ein bisschen schräg“, aber kein Aufreger, verspricht der Tänzer und Choreograf: „,Neant‘´ ist ein humoristisches Stück. Als ich es gemacht habe, war ich verärgert über diese Produzenten, die mir gesagt haben, ich solle mich runterdimmen.“In seinem Solo schlüpft der Mann mit Bart nackt und mit blonder Perücke in die Rolle seines alter Ego: „Die Blonde führt sich auf wie ein dreijähriges Kind. Sie ist ein Charakter ohne Filter, sie kennt die Regeln der Gesellschaft nicht und sagt Dinge, die nur Kinder sagen, sie stellt Fragen, ändert ständig die Meinung. Sie sagt so viel, das ich den Leuten sagen will, auf die ich böse bin. Ich wollte das niemandem ins Gesicht sagen, aber wenn die Blonde das tut, ist das sehr lustig.“
Ernst oder schriller Humor – Dave St. Pierre lässt sich nicht festnageln: „Ich will alles machen. Das öffnet meinen Geist als Gestalter.“Eine innere Beweglichkeit, die er sich auch vom Publikum wünscht: „Viele Leute gehen in den Cirque du Soleil, wissen aber nichts über zeitgenössische Kunst, Jeff Koons oder Maria Abramovic.“´ Er wolle jedenfalls mit seiner Arbeit nicht nur die TanzCommunity ansprechen, sondern „das echte Publikum, die Leute, die sonst ins Musical gehen oder in dieses bunte Cirque-du-SoleilBla-Bla.“Seine Blonde, die respektlos drauf los plappert, ist dabei hilfreich: „Wir sollten nicht immer so ernst über zeitgenössische Kunst sprechen, nicht nur so intellektuell – auch wenn ich weiß, dass das wichtig ist. Aber ich verstehe, dass sich manche nicht für zeitgenössische Kunst interessieren.“