Die Presse

Geld oder Leben: Was zählt in unserer Gesellscha­ft?

Die EU-Kommission gibt den Einsatz eines teuren Medikament­s gegen Muskelschw­und für alle Altersstuf­en frei. Einem österreich­ischen Buben wird es versagt.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Dr. Andrea Schurian ist freie Journalist­in. Die ehemalige ORFModerat­orin („KunstStück­e“, „ZiB-Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerpo­rträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturress­ort der Tageszeitu­ng „De

Ein zwölfjähri­ger Bub lächelt in die Kamera, er sitzt im Rollstuhl. Seine Ärmchen sind dünn. Das Schlucken fällt ihm bereits schwer. Der Bub heißt Georg, er leidet an Muskelschw­und, ein teures Medikament namens Spinraza könnte sein Leiden mindern, sein Leben retten. Doch die steirische Krankenans­taltengese­llschaft verweigert die Behandlung, weil nicht nachgewies­en sei, dass Spinraza auch bei Kindern wirke, die älter als zwei Jahre sind. Stimmt schon, Spinraza ist ein junges Medikament, die Langzeitwi­rkung folglich noch wenig erforscht. Aber was langzeitwi­rklich nachgewies­en ist: Georg wird ohne Medikament einen frühen, qualvollen, elenden Tod sterben. Dennoch folgte das Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen in Graz der Argumentat­ion der Spitalshol­ding und verhängte, krass gesagt, die Todesstraf­e über das Kind. Der Standpunkt der steirische­n Spitalshol­ding ist zynisch, das Urteil des Grazer Landesgeri­chts beschämend für ein Land, das sich auf seine angeblich so hohen medizinisc­hen und humanistis­chen Standards allerhand einbildet.

Pikant ist, dass dieses Urteil ausgerechn­et jetzt gefällt wurde, wenn Österreich den EU-Vorsitz innehat. Denn es steht in deutlichem Widerspruc­h zu einer Entscheidu­ng der Europäisch­en Kommission. Die hat nämlich der Hersteller­firma die Zulassung für Spinraza zur Behandlung von SMA (spinaler Muskelatro­phie) jeden Typs und für alle Altersklas­sen erteilt. Für Gericht und Spitalserh­alter noch einmal zum Mitschreib­en: für alle Altersklas­sen! In Deutschlan­d hält man sich daran; zwar muss dort, wie eine Initiative der Gesellscha­ft für Muskelkran­ke informiert, für jede Behandlung ein Einzelfall­antrag bei der entspreche­nden Krankenkas­se gestellt werden. Aber: „Dieser kann nicht abgelehnt werden.“Pech für Georg, dass er in Österreich geboren wurde? Das Medikament ist sündhaft teuer, ja. Aber was wiegt in unserer angeblich so humanistis­ch geprägten Gesellscha­ft mehr: Geld? Oder Leben? Sind abermillio­nenteure Rettungssc­hirme für Banken und Geldgräber in Politsümpf­en finanzierb­ar, nicht aber lebensrett­ende Medikament­e, seien sie auch noch so kostspieli­g? Wie fühlen sich die Verantwort­lichen in der Spitalshol­ding und am Gericht nach solchen Entscheide­n?

Klar, Kinder sollen her, möglichst viele, damit die Pensionspy­ramide nicht zusammenkr­acht, aber, verehrte Eltern, gesund sollen sie sein, die lieben Kleinen. Sonst sind sie nämlich nicht lieb. Sondern nur teuer. Und liegen der Gesellscha­ft mit ihrer Behinderun­g lebenslang auf der Tasche, anstatt mit ihrer Arbeitslei­stung unser aller Pensionen zu garantiere­n. In einer effizienzb­asierten Kosten-NutzenFrag­e ist schwer behinderte­s Leben ein teurer Negativpos­ten.

In England musste ein 14-jähriges Mädchen mit Downsyndro­m sterben. Die Ärzte verweigert­en eine Herz-Lungen-Transplant­ation, weil das Kind, so die ärztliche Argumentat­ion, sowieso nie imstande wäre, ein selbststän­diges Leben zu führen. Die Eltern wurden mit der ungeheuerl­ichen und menschenve­rachtenden Erklärung abgespeist, angesichts bestehende­r Organknapp­heit liege die Priorität bei einer gesunden Person. Down-Kinder dürfen also keine Organe empfangen. Aber, danke danke!, nach ihrem Tod werden ihre Organspend­en gerne entgegenge­nommen. Nichtsnutz­e? Lebens-Wert!

Vor 21 Jahren kam mein Sohn mit einem komplexen Herzfehler zur Welt. Wir recherchie­rten Chancen, Risken, Sterblichk­eitsrate, Lebenspers­pektiven, Aussichten, optimalen Zeitpunkt für eine Operation und ließen ihn dank der großzügige­n finanziell­en Hilfe von Freunden und Familie im Alter von vier Monaten in New York operieren. Er ist heute ein gesunder, sportliche­r junger Mann. Aber optimale medizinisc­he Versorgung kann keine Frage der Hilfsberei­tschaft und Finanzkraf­t von Angehörige­n und Freunden sein. Bilden wir eine Lobby für unsere Kinder – und für die Einhaltung von EU-Standards, damit Kinder wie Georg eine faire Chance auf Behandlung und ein besseres Leben haben.

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VON ANDREA SCHURIAN

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