Geld oder Leben: Was zählt in unserer Gesellschaft?
Die EU-Kommission gibt den Einsatz eines teuren Medikaments gegen Muskelschwund für alle Altersstufen frei. Einem österreichischen Buben wird es versagt.
Ein zwölfjähriger Bub lächelt in die Kamera, er sitzt im Rollstuhl. Seine Ärmchen sind dünn. Das Schlucken fällt ihm bereits schwer. Der Bub heißt Georg, er leidet an Muskelschwund, ein teures Medikament namens Spinraza könnte sein Leiden mindern, sein Leben retten. Doch die steirische Krankenanstaltengesellschaft verweigert die Behandlung, weil nicht nachgewiesen sei, dass Spinraza auch bei Kindern wirke, die älter als zwei Jahre sind. Stimmt schon, Spinraza ist ein junges Medikament, die Langzeitwirkung folglich noch wenig erforscht. Aber was langzeitwirklich nachgewiesen ist: Georg wird ohne Medikament einen frühen, qualvollen, elenden Tod sterben. Dennoch folgte das Landesgericht für Zivilrechtssachen in Graz der Argumentation der Spitalsholding und verhängte, krass gesagt, die Todesstrafe über das Kind. Der Standpunkt der steirischen Spitalsholding ist zynisch, das Urteil des Grazer Landesgerichts beschämend für ein Land, das sich auf seine angeblich so hohen medizinischen und humanistischen Standards allerhand einbildet.
Pikant ist, dass dieses Urteil ausgerechnet jetzt gefällt wurde, wenn Österreich den EU-Vorsitz innehat. Denn es steht in deutlichem Widerspruch zu einer Entscheidung der Europäischen Kommission. Die hat nämlich der Herstellerfirma die Zulassung für Spinraza zur Behandlung von SMA (spinaler Muskelatrophie) jeden Typs und für alle Altersklassen erteilt. Für Gericht und Spitalserhalter noch einmal zum Mitschreiben: für alle Altersklassen! In Deutschland hält man sich daran; zwar muss dort, wie eine Initiative der Gesellschaft für Muskelkranke informiert, für jede Behandlung ein Einzelfallantrag bei der entsprechenden Krankenkasse gestellt werden. Aber: „Dieser kann nicht abgelehnt werden.“Pech für Georg, dass er in Österreich geboren wurde? Das Medikament ist sündhaft teuer, ja. Aber was wiegt in unserer angeblich so humanistisch geprägten Gesellschaft mehr: Geld? Oder Leben? Sind abermillionenteure Rettungsschirme für Banken und Geldgräber in Politsümpfen finanzierbar, nicht aber lebensrettende Medikamente, seien sie auch noch so kostspielig? Wie fühlen sich die Verantwortlichen in der Spitalsholding und am Gericht nach solchen Entscheiden?
Klar, Kinder sollen her, möglichst viele, damit die Pensionspyramide nicht zusammenkracht, aber, verehrte Eltern, gesund sollen sie sein, die lieben Kleinen. Sonst sind sie nämlich nicht lieb. Sondern nur teuer. Und liegen der Gesellschaft mit ihrer Behinderung lebenslang auf der Tasche, anstatt mit ihrer Arbeitsleistung unser aller Pensionen zu garantieren. In einer effizienzbasierten Kosten-NutzenFrage ist schwer behindertes Leben ein teurer Negativposten.
In England musste ein 14-jähriges Mädchen mit Downsyndrom sterben. Die Ärzte verweigerten eine Herz-Lungen-Transplantation, weil das Kind, so die ärztliche Argumentation, sowieso nie imstande wäre, ein selbstständiges Leben zu führen. Die Eltern wurden mit der ungeheuerlichen und menschenverachtenden Erklärung abgespeist, angesichts bestehender Organknappheit liege die Priorität bei einer gesunden Person. Down-Kinder dürfen also keine Organe empfangen. Aber, danke danke!, nach ihrem Tod werden ihre Organspenden gerne entgegengenommen. Nichtsnutze? Lebens-Wert!
Vor 21 Jahren kam mein Sohn mit einem komplexen Herzfehler zur Welt. Wir recherchierten Chancen, Risken, Sterblichkeitsrate, Lebensperspektiven, Aussichten, optimalen Zeitpunkt für eine Operation und ließen ihn dank der großzügigen finanziellen Hilfe von Freunden und Familie im Alter von vier Monaten in New York operieren. Er ist heute ein gesunder, sportlicher junger Mann. Aber optimale medizinische Versorgung kann keine Frage der Hilfsbereitschaft und Finanzkraft von Angehörigen und Freunden sein. Bilden wir eine Lobby für unsere Kinder – und für die Einhaltung von EU-Standards, damit Kinder wie Georg eine faire Chance auf Behandlung und ein besseres Leben haben.