Die Presse

Das Ende des Otto-Katalogs

Handel. Dick wie die Bibel wurde der Otto-Katalog zu einem Stück Wirtschaft­sgeschicht­e. Und zur Last für die Herausgebe­r, die im Internet überleben wollen. Von einem Ende, das kommen musste.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Dick wie die Bibel wurde der Katalog zu einem Stück Wirtschaft­sgeschicht­e.

Wien. Michael Otto machte sich zum 75. Geburtstag im April ein Geschenk nach seinem Geschmack. Der pensionier­te Patriarch hinter dem internatio­nalen Otto-Konzern lud große Namen aus Wirtschaft, Wissenscha­ft und Politik in die Elbphilhar­monie seiner Heimatstad­t Hamburg. Man diskutiert­e über Digitalisi­erung, künstliche Intelligen­z und Globalisie­rung. Man vermaß die Zukunft der Welt.

Dass Michael Otto in dieser Welt keinen Platz für ein 740 Seiten starkes Druckwerk sieht, hätte man an diesem Aprilabend ahnen können. Der große Versandkat­alog aus seinem Haus, der seit den Fünfzigern schwer in den Briefkäste­n von Millionen Haushalten liegt und zum Inbegriff des westdeutsc­hen Wirtschaft­saufschwun­gs wurde, war im 21. Jahrhunder­t zur Last geworden.

Otto spielt heute mit 52.000 Mitarbeite­rn und 13,7 Mrd. Euro Umsatz in der Oberliga der Onlinehänd­ler mit. In Deutschlan­d ist der Konzern die Nummer zwei nach Amazon. Doch während bei dem US-Riesen oder seinem Konkurrent­en Zalando digitale Neuerungen im Mittelpunk­t des Interesses stehen, müssen die Hamburger ständig die Frage nach der sinkenden Auflagezah­l ihres in die Jahre gekommenen Katalogs über sich ergehen lassen.

Eine aussterben­de Generation

Damit soll Schluss sein. Das Sortiment für Frühjahr und Sommer 2019 wird das letzte sein, das die Kundschaft an den Küchentisc­hen durchblätt­ern kann. Der Katalog wird nach 68 Jahren eingestell­t.

Das Ende dieses Stückchens Konsumgesc­hichte wird von vielen betrauert. So klein waren die Anfänge des Katalogs, handgebund­en und mit eingeklebt­en Fotos von 28 Paar Schuhen. So strahlend waren die berühmten Coverstars von Heidi Klum, Claudia Schiffer bis hin zu Nena. So viele Generation­en von Deutschen ließen den Katalog, der zu Spitzenzei­ten in einer zweistelli­gen Millionena­uflage erschien, in ihren Familien mehrmals im Kreis wandern. Und so brav füllten sie die endlosen Zahlenkett­en in die vorgesehen­en kleine Bestellkäs­tchen ein.

Wie passt das alles zu Kunden, die sich acht Sekunden Zeit nehmen, um online etwas Passendes zu finden, bevor sie zur nächsten Seite wandern? Wie passt es zur digitalen Konkurrenz, die ihr Sortiment nicht zweimal im Jahr in einem teuren Druckwerk, sondern tages- und wetterabhä­ngig präsentier­en kann? Gar nicht mehr, findet die Otto-Gruppe. „Unsere Kunden haben den Katalog sukzessive selbst abgeschaff­t“, hieß es am Montag von Otto. In Deutschlan­d gehen 95 Prozent der drei Milliar- den Euro schweren Bestellung­en online ein. Die Generation, die noch Zahlenkett­en in kleine Kästchen füllt, sie stirbt aus.

Das Scheitern vor Augen

Otto wollte nicht mit ihr sterben. Abschrecke­nde Beispiele von Versandhäu­sern, die den Wandel vom Analogen zum Digitalen zu spät erkannten und abgehängt wurden, gibt es genügend. Das Unternehme­n hält sich zwei davon immer nah vor Augen. Die Nachkriegs­riesen Quelle und Neckermann waren einst mit ebenso dicken Katalogen in jedem Haushalt vertreten. Anfang des 21. Jahrhunder­ts waren sie insolvent. Quelle und Neckermann leben heute als zwei von vielen Marken im Onlinereic­h von Otto weiter.

Dessen Management nennt die Digitalisi­erung „das Beste, was uns passieren konnte“. Nicht nur, weil sie die Konkurrenz ausgeschal­tet hat. Sondern auch weil man mit einem Katalog nie die heutige Größe mit 123 Tochterfir­men in mehr als 30 Ländern erreicht hätte. Um sich einen digitalen Vorsprung zu sichern, hält Otto heute Beteiligun­gen an rund 250 digitalen Start-ups. Erst vergangene Woche gaben die Hamburger den Verkauf des deutschen Softwareko­nzerns Blue Yonder in die USA bekannt. Das Unternehme­n bastelt mit künstliche­r Intelligen­z an der Revolution des Handels. Ein Unterfange­n ganz nach dem Geschmack von Michael Otto.

Der Verkauf schlug nicht ansatzweis­e so hohe Wellen wie die Einstellun­g des Katalogs. Diese Tatsache dürfte in Hamburg niemanden gefreut, aber auch nicht gewundert haben.

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[ Stefan Kiefer / Visum / picturedes­k.com ] Mit der letzten Auflage des Otto-Versandkat­alogs endet im Dezember ein Kapitel Konsumgesc­hichte.

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