Die Presse

Lebenslang für rechten Terror

NSU-Prozess. Nach fünf Jahren wird in München das Urteil gefällt. Doch für die Familien der Opfer bleiben viele Fragen unbeantwor­tet.

- Von unserer Korrespond­entin IRIS BONAVIDA

Nach fünf Jahren wird in München das Urteil gefällt. Für die Familien der Opfer bleiben viele Fragen unbeantwor­tet.

Berlin/München. Dass nach 437 Verhandlun­gstagen, nach fünf Prozessjah­ren ein Schuldspru­ch und ein hartes Urteil fallen würden – darauf hatten viele gehofft, manche Rechtsradi­kale im Gerichtssa­al befürchtet­en es sogar, die meisten jedenfalls hatten es erwartet. Die Frage war nur: Wird Beate Zschäpe an diesem Mittwoch der Mittätersc­haft beschuldig­t, oder lediglich der Mitwissers­chaft? Hat die 43-Jährige von den zehn Morden, die Uwe M. und Uwe B. mutmaßlich begangen haben, tatsächlic­h nur im Nachhinein erfahren, oder hat sie Zschäpe als Mitglied der rechtsextr­emen Terrorzell­e NSU aktiv mitgeplant?

Kurz vor zehn Uhr im Saal A 101 im Oberlandes­gericht München verlas Richter Manfred Götzl die Antwort: Die Hauptangek­lagte wird unter anderem wegen Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g und des zehnfachen Mordes schuldig gesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig. Für die Angehörige­n der Opfer bleiben auch nach dem Schuldspru­ch Fragen offen. Womit sich der historisch­e Prozess befasst hat – und was im Verfahren verabsäumt wurde.

Der Terror des NSU

Im Jahr 1992, Beate Zschäpe ist damals 17 Jahre alt, lernt sie Uwe M. in Jena kennen. Durch ihn soll sie die ersten Kontakte zur rechtsextr­emen Szene geknüpft haben. Später stößt auch Uwe B. hinzu. Das Trio radikalisi­ert sich immer weiter, die Kontakte mit Neonazi-Gruppen wie dem Thüringer Heimatschu­tz werden enger. Sie geraten ins Visier der Polizei, unter anderem wegen Briefbombe­nattrappen. Nach einer Razzia tauchen die drei im Jahr 1998 unter. Durch Raubüberfä­lle beschaffen sie sich das nötige Geld für ihren Unterschlu­pf, ziehen von Chemnitz nach Zwickau. Die Mordserie gegen Kleinunter­nehmer mit Migrations­hintergrun­d beginnt. Die Polizei schöpft keinen Verdacht. Erst nach einem missglückt­en Raubüberfa­ll im Jahr 2011 töten sich Uwe B. und Uwe M. selbst. Zschäpe versucht, das gemeinsame Versteck in Brand zu setzen, verschickt ein Bekennervi­deo der Terrorzell­e und stellt sich Tage später den Behörden.

Die Opfer

Der 38-jährige Enver Sim¸sek¸ soll das erste Opfer des rechtsextr­emen NSU-Terrors gewesen sein. Er wird im September 2000 erschossen, als er gerade seinen Blumenstan­d in Nürnberg aufbauen wollte. Im Juni 2001 wird der 49-jährige Abdurrahim Özüdogru˘ durch zwei Kopfschüss­e getötet. Zwei Wochen später wird Süleyman Tasköprü¸ in Hamburg ermordet. Im August wird der 38-jährige Habil Kilic¸ Opfer des rechten Terrors. 2004 wird der 25-jährige Mehmet Turgut in seinem Imbiss in Rostock erschossen. Er war vor wenigen Wochen dorthin gezogen. Im Juni 2005 stirbt der 50-jährige ˙Ismail Yasar¸ durch fünf Schüsse gegenüber einer Schule in Nürnberg. Kinder finden ihn am Tatort. Im selben Monat wird der 41-jährige Theodoros Boulgaride­s in München getötet. 2006 wird der 39-jährige Mehmet Kubasik¸ in Dortmund erschossen, zwei Tage später der 21-jährige Halit Yozgat in Kassel. Sein Vater findet ihn in seinem Internetca­fe,´ ein V-Mann befindet sich in einem Nebenraum. Im April stirbt die 22-jährige Polizistin Mich`ele Kiesewette­r durch einen Kopfschuss.

Die Hauptangek­lagte Zschäpe

Für diese zehn Morde wird Zschäpe verantwort­lich gemacht. Sie erhält die Höchststra­fe: lebenslang­e Haft. Außerdem wird sie als Mittäterin bei zwei Bombenansc­hlägen, fünfzehn Raubüberfä­llen und einer Brandlegun­g schuldig gesprochen sowie wegen der Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g verurteilt. Das Gericht stellte auch die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlas­sung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlo­ssen.

Vier weitere Schuldsprü­che

Vier weitere Helfer des NSU wurden am Mittwoch (ebenfalls nicht rechtskräf­tig) schuldig gesprochen. Nur einer davon, Cars- ten S., half den Behörden bei der Aufklärung. Er lebte bisher im Zeugenschu­tzprogramm, nun wurde er zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Ralf W., der dem Urteil zufolge die Mordwaffe besorgt hat, soll für zehn Jahre ins Gefängnis. Holger G. wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, er organisier­te gefälschte Papiere. Andre E. wird wegen Unterstütz­ung des NSU zu zweieinhal­b Jahren Haft verurteilt. Er provoziert­e im Gerichtssa­al mit heftigem Grinsen und ließ sich Neonazi-Symbole und -Sprüche tätowieren.

Der Prozess

Es ist ein historisch­er Prozess, der am Mittwoch – vorerst – zu Ende gegangen ist: Fünf Jahre lang wurde an 438 Tagen verhandelt. 100.000 Aktenseite­n wurden studiert, etwa 600 Zeugen befragt, rund 90 Nebenkläge­r gezählt. Das Verfahren zog sich wegen der Komplexitä­t in die Länge. Doch auch der Streit zwischen Zschäpe und ihren Anwälten führte unter anderem dazu.

Die offenen Fragen

Die Angehörige­n der Opfer haben auch noch viele offene Fragen: Wurden sie zufällig ausgewählt? Bestand die NSU-Zelle nur aus drei Personen? Wie viel wussten die Behörden? Beantworte­t wurden sie bisher nicht.

 ?? [ Reuters ] ?? Die 43-jährige Beate Zschäpe erhält am Mittwoch in München die Höchststra­fe: lebenslang­e Haft.
[ Reuters ] Die 43-jährige Beate Zschäpe erhält am Mittwoch in München die Höchststra­fe: lebenslang­e Haft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria