Die Presse

Ein Missverstä­ndnis namens Dublin

Asylpoliti­k. Europas Regeln dafür, welcher Staat für welche Asylwerber zuständig sein soll, waren von Anfang an veraltet. Die EU-Innenminis­ter werden in Innsbruck mit ihrer Reform ringen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Juni 1990 war eine gute Zeit für Europa. Die Berliner Mauer war ein halbes Jahr zuvor gefallen. Vom blutigen Zerfall Jugoslawie­ns war noch ebenso wenig zu sehen wie von der Flüchtling­swelle, die dieser Krieg nach Norden treiben sollte. Emsig werkten die Regierunge­n der zwölf Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Gemeinscha­ften daran, einen Binnenmark­t zu schaffen – einen, der keine internen Grenzkontr­ollen mehr kennen würde. Das rückte ein praktische­s Problem in den Fokus der Europapoli­tik: Wer soll für Asylwerber zuständig sein, wenn es einen gemeinsame­n Wirtschaft­sraum gibt?

So traten die Innenminis­ter am 15. Juni 1990 in Dublin zusammen, um ein Abkommen zu unterzeich­nen. „Übereinkom­men über die Bestimmung des zuständige­n Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedst­aat der Europäisch­en Gemeinscha­ft gestellten Asylantrag­s“: Der volle Name dieses schlanken internatio­nalen Vertrags macht deutlich, worum es damals gegangen ist. Erstens wollte man das Problem lösen, dass Flüchtling­e von einem Staat zum anderen wandern, weil keiner sich für ihr Asylverfah­ren zuständig fühlt. Zweitens wollte man den Missbrauch dieser Unklarheit durch Asylwerber beenden, die gleichzeit­ig Anträge in mehreren Staaten stellen (also das „Asylshoppi­ng“).

Was „Dublin“nicht regeln sollte, wird ebenfalls aus seinem vollen Namen deutlich. Die Harmonisie­rung der nationalen Verfahrens­regeln war ebenso wenig Regelungsi­nhalt wie jene der materielle­n Unterstütz­ung für die Asylwerber, und schon gar nicht die faire Verteilung von Asylwerber­n.

Diese Unterlassu­ngen sollten sich bald rächen. Denn erst mit sieben Jahren Verspätung trat das Abkommen in Kraft. Doch in der Zwischenze­it hatten sich die Fakten geändert. Die Flüchtling­e des Jugoslawie­n-Kriegs, der diversen aufgeflamm­ten Kriege in Westafrika und das Zerbröseln der Sowjetunio­n hatten den Zustrom Fremder – ob schutzbedü­rftig oder bloß auf der Suche nach einem besseren Leben – in fast allen Staaten der nunmehrige­n Europäisch­en Union zum Politikum gemacht. Die Prinzipien Dublins dafür, wer für einen Asylwerber zuständig ist, wurden zu einem Quell des innereurop­äischen Zanks, der bis heute andauert und auch die Innenminis­ter bei ihrem informelle­n Treffen in Innsbruck am heutigen Donnerstag beschäftig­en wird.

Drei Prinzipien regeln diese Zuständigk­eit. Die Dublin-Reformen der Jahre 2003 und 2013 festigten die Familienba­nde als vorrangige­s Entscheidu­ngskriteri­um, wie Blanca Garce´s-Mascaren˜as vom Barcelona Center for Internatio­nal Affairs im Jahr 2015 in einer Studie festhielt: Wenn der Asylwerber Familienan­gehörige in einem Land hat, die anerkannte Flüchtling­e sind oder sich selbst in einem Asylverfah­ren befinden, dann ist auch sein Verfahren dort durchzufüh­ren. Andernfall­s ist der Staat zuständig, in den er erstmals in die EU gekommen ist.

In der Praxis scheitert das System aus vielen Gründen. So haben die Erstankunf­tsstaaten (allen voran Italien und Griechenla­nd) kein Eigeninter­esse daran, alle auf ihrem Staatsgebi­et ankommende­n Flüchtling­e korrekt zu registrier­en. Denn mangels Familienan­hangs in anderen EU-Staaten wären sie für deren Verfahren zuständig. Zugleich haben aber auch die meisten Asylwerber kein Interesse, in den Mittelmeer­staaten der Union zu bleiben. 2013 beispielsw­eise beantragte­n nur 64.625 der rund 170.000 irregulär in Italien Angekommen­en dort Asyl.

Ähnlich dysfunktio­nal ist die Rücksendun­g von Asylwerber­n in jenes Land, das für sie zuständig ist – der Zankapfel, der dieser Tage zwischen Deutschlan­d, Österreich und Italien zu Querelen geführt hat. Das funktionie­rte schon vor Jahren nicht. Die Mitgliedst­aaten verschwend­en enorme Ressourcen dafür, Asylwerber hin- und herzuschic­ken, ohne dass dies etwas an den absoluten Zahlen ändern würde, die sie zu bewältigen haben.

„Warum machen wir mit diesem System weiter?“, fragte Garce´s-Mascaren˜as in ihrem Papier. Und sie gibt die Antwort: „Wenn eine Politik aufrechter­halten wird, obwohl sie nicht einmal ihre grundlegen­dsten Ziele erreicht, dann liegt das daran, dass ihre wahren Ziele anderswo liegen.“Der Streit um Dublin sei „Symbolpoli­tik“, er sei „Ergebnis einer heiklen Machtbalan­ce zwischen Ländern mit unterschie­dlichen Umständen und Interessen, die einander oft widersprec­hen“. sich dasselbe Vorgehen von österreich­ischer Seite an der Südgrenze zu Italien fortsetzen. Italiens Innenminis­ter, Matteo Salvini, will deshalb bereits Donnerstag­vormittag mit Seehofer und seinem österreich­ischen Amtskolleg­en, Herbert Kickl, zusammentr­effen.

Auf der Tagesordnu­ng stehen eigentlich die Vorschläge des jüngsten EU-Gipfels, bei dem ein rasch verstärkte­r Außengrenz­schutz, Lager in Afrika und Erstaufnah­mezentren in der EU angeregt wurden. All diese Ideen wurden bereits seit 2015 immer wieder vorgebrach­t. Sie scheiterte­n aber bisher an rechtliche­n, finanziell­en und an der mangelnden Sicherheit in den Transitlän­dern.

Die von Kickl eingebrach­te Idee, das Stellen von Asylanträg­en künftig nur noch außerhalb der EU zuzulassen, steht nicht auf dem Programm. Sie wird von einzelnen Amtskolleg­en, wie dem Luxemburge­r Jean Asselborn, aber auch von Rechtsexpe­rten als unrealisti­sch bezeichnet. (wb)

Newspapers in German

Newspapers from Austria